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Silvia Bovenschen Älter werden Silvia Bovenschen
Älter werden. Notizen.
S. Fischer 2006, 155 Sei­ten
ISBN 978-3-10-003512-7

Wer interessiert sich für ein Buch über das "Äl­ter wer­den"? Alte Men­schen oder sol­che, die an sich selbst wahr­neh­men, dass sie älter wer­den? Ge­ron­to­lo­gen? Mit 40 hät­te ich das Buch ver­mut­lich nicht ge­le­sen, und mit 40 hät­te Sil­via Bo­ven­schen es ver­mut­lich auch nicht ge­schrie­ben. Aber im Al­ter ver­än­dert sich die Per­spek­ti­ve aufs Altern.

Wir beginnen schon am Tag un­se­rer Geburt zu al­tern, tra­gisch wird es aber (meist) erst am an­de­ren En­de des Zeit­pfeils. Nicht so bei Silvia Bo­ven­schen, deren Le­ben im­mer wie­der – und schon früh – von schwe­ren Krankheiten und lan­gen Kran­ken­haus­au­fent­hal­ten be­ein­flusst wurde. So wurde bei ihr in der Mitte ih­rer zwan­zi­ger Jahre mul­ti­ple Skle­ro­se dia­gnos­ti­ziert, die Mo­bi­li­tät schließ­lich nur noch un­ter Zu­hil­fe­nah­me eines Roll­stuhls zu­ließ.

Silvia Bovenschen ver­mei­det ver­all­ge­mei­nern­de Aus­sa­gen über das Al­tern, sie be­schreibt ih­re ei­ge­nen Wahr­neh­mun­gen über die Ver­än­de­run­gen, de­nen sie selbst un­ter­wor­fen ist im Pro­zess des äl­ter, des alt Werdens. Ich habe mich in vielen der Be­ob­ach­tun­gen und Re­flek­tio­nen wieder ge­fun­den; man­che eher beiläufiger Art, an­de­re ganz we­sent­li­cher Natur. Der Mo­ment zum Bei­spiel, in dem man un­er­war­tet mit dem ei­ge­nen Spie­gel­bild kon­fron­tiert wird und erschrickt über die Kör­per­hal­tung oder die vie­len Falten im Ge­sicht, an die man sich beim täglichen Zäh­ne­put­zen oder der Rasur so ge­wöhnt hat, dass sie kaum noch auffallen. Das Un­er­war­te­te, das Plötz­li­che un­ter ver­än­der­ten Um­stän­den führt zu dem Erschrecken beim Anblick des ei­ge­nen Al­ters, das sie und ich teilen.

Oder die fehlende bzw. nur va­ge Erinnerung an "we­sent­li­che" Mo­men­te oder Er­eig­nis­se im Le­ben, die kein An­zei­chen für ei­ne beginnende De­menz sind, sondern der Aus­druck einer Ver­än­de­rung der Be­deu­tung des "We­sent­li­chen" im Zu­ge der Ent­wick­lung/Veränderung der ei­ge­nen Persönlichkeit. Da­zu ein Zi­tat, das sich auf eine Vor­le­sung bei Ador­no bezieht, in die sie zufällig geraten war und de­ren Inhalt ihr weit­ge­hend un­ver­ständ­lich blieb: "Ich folgte dem Rhythmus, den Klän­gen der Vor­le­sung und beschloß, in den Ver­an­stal­tun­gen dieses Künst­ler­phi­lo­so­phen sit­zen zu bleiben, bis ich al­les be­griff. Das tat ich dann auch. Und lernte, daß es die festen Orte nicht gibt, daß es mit der Suche nach Ori­en­tie­rungen nie ein En­de hat, daß sie das ist, was uns lebendig hält." S. 129

Der Rückblick auf ei­ge­ne Irr­tü­mer und die Aus­ei­nan­der­set­zung damit, lenkt den Blick aber auch auf ehemalige Mit­strei­ter, die mit dem Fu­ror des ty­pi­schen Re­ne­ga­ten ihre ei­ge­ne Ver­gan­gen­heit de­nun­zie­ren. Übrigens mit der sel­ben Ve­he­menz, mit der sie schon immer ih­re wech­seln­den Stand­punk­te vertreten ha­ben.

Silvia Bovenschen ist sich der Un­zu­ver­läs­sig­keit von Er­in­ne­run­gen im­mer bewusst, aber auch der Be­deu­tung, die Er­in­ne­run­gen für die Selbst­wahr­neh­mung ha­ben, für das Selbst­wert­ge­fühl auch. So drü­cken viele ihrer No­ti­zen Am­bi­va­len­zen und Wi­der­sprü­che aus und füh­ren zu dem Fa­zit auf der letz­ten Seite des Bu­ches: "Ich bin ein bün­deln­des rück­kop­peln­des Als-ob, das sich ei­ne fragwürdige Er­in­ne­rungs­ge­schich­te schafft, um dann aus ihr zu be­ste­hen..." S. 155

Ein lesenswertes Buch, das Ent­wick­lung und Ver­gäng­lich­keit in ein re­flek­tier­tes Ver­hält­nis setzt.

Silvia Bovenschen (1946 – 2017) studierte in Frank­furt am Main Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft, So­zio­lo­gie und Phi­lo­so­phie, ihre Dok­tor­ar­beit er­schien un­ter dem Titel "Die ima­gi­nier­te Weib­lich­keit" und gilt als fe­mi­nis­ti­sches Stan­dard­werk. Sie lehrte zwan­zig Jah­re lang Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft und pu­bli­zier­te meh­re­re Text nicht nur wis­sen­schaft­li­chen In­halts. Bo­ven­schen war seit 2011 Mitglied der Ber­li­ner Akademie der Küns­te, 2013 wurde sie in die Deut­sche Aka­de­mie für Spra­che und Dich­tung auf­ge­nom­men.

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19. Januar 2024

Biographisches

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