Kassiber | |||||
|
|||||
Silvia Bovenschen Wer interessiert sich für ein Buch über das "Älter werden"? Alte Menschen oder solche, die an sich selbst wahrnehmen, dass sie älter werden? Gerontologen? Mit 40 hätte ich das Buch vermutlich nicht gelesen, und mit 40 hätte Silvia Bovenschen es vermutlich auch nicht geschrieben. Aber im Alter verändert sich die Perspektive aufs Altern. Wir beginnen schon am Tag unserer Geburt zu altern, tragisch wird es aber (meist) erst am anderen Ende des Zeitpfeils. Nicht so bei Silvia Bovenschen, deren Leben immer wieder – und schon früh – von schweren Krankheiten und langen Krankenhausaufenthalten beeinflusst wurde. So wurde bei ihr in der Mitte ihrer zwanziger Jahre multiple Sklerose diagnostiziert, die Mobilität schließlich nur noch unter Zuhilfenahme eines Rollstuhls zuließ. Silvia Bovenschen vermeidet verallgemeinernde Aussagen über das Altern, sie beschreibt ihre eigenen Wahrnehmungen über die Veränderungen, denen sie selbst unterworfen ist im Prozess des älter, des alt Werdens. Ich habe mich in vielen der Beobachtungen und Reflektionen wieder gefunden; manche eher beiläufiger Art, andere ganz wesentlicher Natur. Der Moment zum Beispiel, in dem man unerwartet mit dem eigenen Spiegelbild konfrontiert wird und erschrickt über die Körperhaltung oder die vielen Falten im Gesicht, an die man sich beim täglichen Zähneputzen oder der Rasur so gewöhnt hat, dass sie kaum noch auffallen. Das Unerwartete, das Plötzliche unter veränderten Umständen führt zu dem Erschrecken beim Anblick des eigenen Alters, das sie und ich teilen. Oder die fehlende bzw. nur vage Erinnerung an "wesentliche" Momente oder Ereignisse im Leben, die kein Anzeichen für eine beginnende Demenz sind, sondern der Ausdruck einer Veränderung der Bedeutung des "Wesentlichen" im Zuge der Entwicklung/Veränderung der eigenen Persönlichkeit. Dazu ein Zitat, das sich auf eine Vorlesung bei Adorno bezieht, in die sie zufällig geraten war und deren Inhalt ihr weitgehend unverständlich blieb: "Ich folgte dem Rhythmus, den Klängen der Vorlesung und beschloß, in den Veranstaltungen dieses Künstlerphilosophen sitzen zu bleiben, bis ich alles begriff. Das tat ich dann auch. Und lernte, daß es die festen Orte nicht gibt, daß es mit der Suche nach Orientierungen nie ein Ende hat, daß sie das ist, was uns lebendig hält." S. 129 Der Rückblick auf eigene Irrtümer und die Auseinandersetzung damit, lenkt den Blick aber auch auf ehemalige Mitstreiter, die mit dem Furor des typischen Renegaten ihre eigene Vergangenheit denunzieren. Übrigens mit der selben Vehemenz, mit der sie schon immer ihre wechselnden Standpunkte vertreten haben. Silvia Bovenschen ist sich der Unzuverlässigkeit von Erinnerungen immer bewusst, aber auch der Bedeutung, die Erinnerungen für die Selbstwahrnehmung haben, für das Selbstwertgefühl auch. So drücken viele ihrer Notizen Ambivalenzen und Widersprüche aus und führen zu dem Fazit auf der letzten Seite des Buches: "Ich bin ein bündelndes rückkoppelndes Als-ob, das sich eine fragwürdige Erinnerungsgeschichte schafft, um dann aus ihr zu bestehen..." S. 155 Ein lesenswertes Buch, das Entwicklung und Vergänglichkeit in ein reflektiertes Verhältnis setzt. Silvia Bovenschen (1946 – 2017) studierte in Frankfurt am Main Literaturwissenschaft, Soziologie und Philosophie, ihre Doktorarbeit erschien unter dem Titel "Die imaginierte Weiblichkeit" und gilt als feministisches Standardwerk. Sie lehrte zwanzig Jahre lang Literaturwissenschaft und publizierte mehrere Text nicht nur wissenschaftlichen Inhalts. Bovenschen war seit 2011 Mitglied der Berliner Akademie der Künste, 2013 wurde sie in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen. ---------------------------- 19. Januar 2024 |
|||||
Gelesen : Weiteres : Impressum |