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Ralph Dutli Mandelstam Eine Biographie Ralph Dutli
Mandelstam.
Eine Biographie.
Fischer Taschenbuch 2005, 637 Sei­ten
ISBN 978-3-596-16724-1

Dutli ist Herausgeber und Über­set­zer der 10bändigen Ge­samt­aus­ga­be Ossip Man­del­stams, die um­fang­rei­che Bio­graphie bildet den Ab­schluss des Projekts.

Selten sind Werk und Bio­gra­phie ei­nes Autors so eng in­ei­nan­der verzahnt, wie es bei Os­sip Man­del­stam (1891 – 1938) der Fall gewesen ist. Ralph Dutli ge­lingt es auf meis­ter­haf­te Weise, diese Ver­zah­nung nach­zu­wei­sen, in­dem er die Ge­dich­te Man­del­stams in ei­nen un­mit­tel­ba­ren Zu­sam­men­hang zu kon­kre­ten Le­bens­si­tu­ationen stellt. So ent­steht eine Art Werk­bio­gra­phie, die er­heb­lich zum Ver­ständ­nis der Lyrik Man­del­stams beiträgt.

Der familiäre Hintergrund, Man­del­stams frühe Reisen und Stu­dien­aufenthalte in Frank­reich, der Schweiz und Ita­li­en bis zum Studium der Ro­ma­nis­tik und Kunst­ge­schich­te in Hei­del­berg, bilden die Grundlage für erste Ver­öf­fent­li­chun­gen Man­del­stams in der Petersburger Kunst­zeit­schrift "Apollon". Die le­bens­lan­ge Verbindung mit Anna Ach­ma­to­wa [1] beginnt in die­ser Zeit, als er sich li­te­ra­ri­schen Vereinigungen an­schließt und sich an der Grün­dung des "Akmeismus" [2] be­tei­ligt.

Der Erste Weltkrieg, die Re­vo­lu­tion, die zur Gründung der Sow­jet­union führt und die Wir­ren der ersten Jahre da­nach, stür­zen den Dichter in in­ne­re und äußere Konflikte, die sein wei­te­res Leben be­stim­men wer­den.

Sympathien mit den So­zial­re­volutionären, Ver­haf­tung auf der Krim als "sowjetischer Spion" durch die "Weißen", Frei­las­sung, erneute Fest­nah­me durch Menschewiken, die ihn der Un­ter­stüt­zung der Kon­ter­re­volution ver­däch­ti­gen, Terror, Er­schie­ßun­gen, Man­del­stams un­ste­tes Leben wird von nun an nur noch kur­ze Phasen der Ruhe finden.

Aber er lernt in diesen apo­ka­lyp­tischen Ver­hält­nis­sen seine spä­te­re Frau Nadeschda [3] ken­nen, mit der er die nächs­ten 20 Jah­re Krisen, Krank­heit, Verfolgung und Armut tei­len wird. Ihr ver­dan­ken wir, dass sein Werk im heute be­kann­ten Um­fang er­hal­ten ge­blie­ben ist.

Dutli beschreibt die größer wer­den­de Distanz Man­del­stams zur sowjetischen Ge­sell­schaft, die sich in seinem Werk nie­der­schlägt, was Ver­däch­ti­gun­gen und Be­nach­tei­li­gun­gen zur Fol­ge hat. Arbeit ist schwer zu finden und ist auch immer nur von kurzer Dau­er. Mandelstam betätigt sich als Übersetzer, um über­le­ben zu können. Durch die Ein­fluss­nah­me Bu­cha­rins [4] er­schei­nen hin und wieder Ge­dich­te oder Essays von ihm, un­ter den Literaten des Lan­des hat er sich einen gu­ten Ruf er­wor­ben (so sie nicht dem sowjetischen Rea­lis­mus hul­di­gen), aber er steht unter Be­ob­ach­tung. Verhöre, Aus­tritt aus der offiziellen Schrift­stel­ler­ver­ei­ni­gung und dann das An­ti­sta­lin­ge­dicht, das ihm zum Verhängnis werden wird. Er trägt es im Freundes- und Be­kann­tenkreis vor, eine Nie­der­schrift gibt es aus Vor­sichts­gründen nicht. Die wird er erst nach seiner Ver­haf­tung 1934 im Lauf des Verhörs an­fer­ti­gen. Er erleidet psy­cho­ti­sche Anfälle, die sich bis in die dreijährige Ver­ban­nung hin­zie­hen, zu der er verurteilt wor­den ist.

1938 erneute Verhaftung, Man­del­stam ist schwer krank, Ver­ur­tei­lung zu 5 Jahren Ar­beits­la­ger we­gen "anti­sow­je­ti­scher Agi­ta­tion und Pro­pa­gan­da". Am 27. Dezember 1938 stirbt Man­del­stam wäh­rend einer Flecktyphus-Epi­de­mie in einem si­bi­ri­schen La­ger nahe Wladi­wostok [5].

Dutli widmet ein Kapitel Na­desch­da Mandelstam und ih­rem un­er­müd­li­chen Wirken für sei­ne Person und sein Werk. Ein ab­schlie­ßen­des Kapitel be­fasst sich mit dem Nach­le­ben des Werks und seiner zu­neh­men­den Bekanntheit. Au­ßer­halb der Sow­jet­union war die Bedeutung der Lyrik Man­del­stams lange un­be­kannt oder unterschätzt. Li­te­ra­tur­ver­zeich­nis, Zeittafel und eine Auf­lis­tung mit Stimmen be­deu­ten­der Autoren zum Werk Os­sip Man­del­stams be­schlie­ßen den Band.

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1. Anna Achmatowa (1889 – 1966) gilt als eine der be­deu­tends­ten Dich­terinnen des 20. Jahr­hun­derts. Sie war eine der Haupt­ver­tre­terinnen des Ak­me­is­mus. In den 20er und 30er Jah­ren mehrere Ver­haf­tun­gen und Ver­ban­nun­gen. Nach Stalins Tod wur­de Ach­ma­to­wa re­ha­bilitiert, ih­re Schriften konnten wieder er­schei­nen und sie wurde 1958 wie­der Mitglied im sow­je­ti­schen Schrift­stel­ler­ver­band.

2. Der Akmeismus ist eine li­te­ra­ri­sche Strömung der Moderne, die in Russland zwischen 1910 und 1920 entstand. Sie war eine Re­ak­ti­on auf den Symbolismus, der im späten 19. und frühen 20. Jahr­hun­dert in Russland do­mi­nier­te. Die Akmeisten lehnten die Mys­tik, die komplizierte Mehr­deu­tig­keit und den Okkultismus des Sym­bo­lis­mus ab. Sie wollten sich auf die konkrete Welt und die sinn­li­che Wahrnehmung kon­zen­trie­ren. Die wich­tigs­ten Vertreter des Ak­me­is­mus waren Nikolai Gumiljow, Anna Achmatowa, Ossip Mandelstam und Marina Zwetajewa.

3. Nadeschda Jakowlewna Man­del­stam (1899 – 1980), geborene Chasina, studierte Philologie an der Universität Leningrad und hei­ra­te­te 1922 den Dichter Ossip Man­del­stam. Nach der Ver­ban­nung ihres Mannes in ein Ar­beits­la­ger wurde Nadeschda ins Exil ge­schickt. Ihr gelang es später, nach Moskau zurückzukehren. Nach dem Tod Ossips arbeitete sie an der Herausgabe seiner Ge­dich­te. Ihre eigenen Memoiren ge­hö­ren zu den wichtigsten Zeug­nis­sen über das Leben in der Sow­jet­union unter Stalin.

4. Nikolai Iwanowitsch Bucharin (1888 – 1938) war ein kom­mu­nis­ti­scher Funktionär und Theo­re­ti­ker in der Sowjetunion mit zeit­wei­se großem Einfluss auf Stalin. 1937 wurde er unter dem Vorwurf der Spionage und einer Ver­schwö­rung gegen Stalin verhaftet und 1938 zum Tode verurteilt und er­schos­sen.

5. Warlam Schalamow ist zur sel­ben Zeit in einem Arbeitslager in der Ko­ly­ma-Region interniert, in das Mandelstam ursprünglich auch de­por­tiert werden sollte.

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26. April 2023

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