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Georges-Arthur Goldschmidt Der versperrte Weg. Roman des Bruders Georges-Arthur Gold­schmidt
Der versperrte Weg.
Roman des Bruders.
Wallstein Verlag 2021, 111 Sei­ten
ISBN 978-3-8353-5061-8

Erich Goldschmidt ist die gro­ße Leer­stel­le in den um­fang­rei­chen au­to­bio­gra­fi­schen Tex­ten, die sein jün­ge­rer Bru­der Georges-Arthur (ge­tauft als Jür­gen-Arthur) bis­lang pu­bli­ziert hat. Sei­ne Existenz war be­kannt, aber in welchem Ver­hält­nis die Brüder zu­ei­nan­der ge­stan­den ha­ben und was aus dem Bru­der in den Zei­ten der Ver­fol­gung und des Krie­ges ge­wor­den ist, hin­ter­ließ kaum Spu­ren in Georges-Arthurs Li­te­ra­tur. Der 2021 er­schie­ne­ne "Roman des Bru­ders" schließt diese Lü­cke nicht vollständig, füllt sie aber mit li­te­ra­ri­scher Subs­tanz.

Die Goldschmidts leb­ten in ei­nem deutsch­na­tio­na­len Mi­lieu, der Va­ter war Richter am Amts­ge­richt in Hamburg und Mit­glied des evan­ge­li­schen Kir­chen­rats; Erich, Jahrgang 1924, fühl­te sich als die Ver­kör­pe­rung deutscher Tu­gen­den [1]. 1933 gal­ten sie plötz­lich als Ju­den, der Vater ver­lor sei­ne Stel­lung bei Ge­richt, Erich wurde des Gym­na­siums ver­wie­sen, die Familie sah sich antisemitischen Schmä­hun­gen aus­ge­setzt. 1938 wur­den Erich und Jürgen-Ar­thur zu­erst nach Ita­lien, dann nach Frankreich ge­bracht, wo sie die nächs­ten Jah­re in ei­nem katholischen In­ter­nat leb­ten. Erich schloss sich in den 40er Jah­ren der Résistance an, spä­ter der Frem­den­le­gion. Er beteiligte sich an einem Putsch­ver­such ge­gen de Gaulle, nach seinem Ab­schied vom Mi­li­tär arbeitete er bei ei­ner Bank, 2010 starb er, 86­jäh­rig.

Goldschmidt beschreibt sei­nen älteren Bruder als einen Men­schen, der sein Leben als ei­ne Ket­te von Iden­ti­täts­kri­sen lebt. Auf der Suche nach einer Zu­ge­hö­rig­keit, die über Fa­mi­lie hi­naus geht. Seine Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Deut­schen (oder dem, was man damals da­für hielt) ging so weit, dass sich Georges-Ar­thur die Fra­ge stellt : "Was wäre aus ihm ge­wor­den, wenn er 'Arier' ge­we­sen wä­re?" (S.67) Das plötz­li­che Aus­ge­sto­ßen­sein, als Jude ge­brand­markt zu wer­den, wäh­rend seine Mit­schü­ler in HJ-Uniform Pa­ra­den ab­hal­ten, er­lebt er als Trau­ma, das sich durch sein wei­te­res Le­ben zieht. Als Deut­scher in der Résistance ver­sucht er alles zu ver­mei­den, was seine Ab­stam­mung er­kenn­bar machen könn­te. "Es geht hier da­rum, das Le­ben eines vom his­to­ri­schen Un­glück zu­tiefst ge­zeich­ne­ten Men­schen nach­zu­er­zäh­len, ..." (S. 21) könn­te man als Fa­zit ste­hen las­sen, denn das ge­zeich­net sein ist das ei­gent­li­che Thema des Buches, we­ni­ger das kon­kre­te gelebte Le­ben.

Uwe Timm hatte 2003 mit der Er­zäh­lung "Am Bei­spiel mei­nes Bru­ders" ein Thema be­ar­bei­tet, das man als Kon­trast zu dem hier be­spro­che­nen Buch lesen könn­te. Timms äl­te­rer Bru­der, eben­falls Jahr­gang 1924, setzte alles da­ran, in die Waf­fen-SS auf­ge­nom­men zu wer­den, was ihm auch ge­lang. Er starb an den schwe­ren Ver­let­zun­gen, die er 1943 in der Ukra­i­ne er­lit­ten hat.

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1. "Alles Deutsche war Le­bens­in­halt für ihn." S. 15

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9. Dezember 2023

Biographisches

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