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Georges-Arthur Goldschmidt Erich Goldschmidt ist die große Leerstelle in den umfangreichen autobiografischen Texten, die sein jüngerer Bruder Georges-Arthur (getauft als Jürgen-Arthur) bislang publiziert hat. Seine Existenz war bekannt, aber in welchem Verhältnis die Brüder zueinander gestanden haben und was aus dem Bruder in den Zeiten der Verfolgung und des Krieges geworden ist, hinterließ kaum Spuren in Georges-Arthurs Literatur. Der 2021 erschienene "Roman des Bruders" schließt diese Lücke nicht vollständig, füllt sie aber mit literarischer Substanz. Die Goldschmidts lebten in einem deutschnationalen Milieu, der Vater war Richter am Amtsgericht in Hamburg und Mitglied des evangelischen Kirchenrats; Erich, Jahrgang 1924, fühlte sich als die Verkörperung deutscher Tugenden [1]. 1933 galten sie plötzlich als Juden, der Vater verlor seine Stellung bei Gericht, Erich wurde des Gymnasiums verwiesen, die Familie sah sich antisemitischen Schmähungen ausgesetzt. 1938 wurden Erich und Jürgen-Arthur zuerst nach Italien, dann nach Frankreich gebracht, wo sie die nächsten Jahre in einem katholischen Internat lebten. Erich schloss sich in den 40er Jahren der Résistance an, später der Fremdenlegion. Er beteiligte sich an einem Putschversuch gegen de Gaulle, nach seinem Abschied vom Militär arbeitete er bei einer Bank, 2010 starb er, 86jährig. Goldschmidt beschreibt seinen älteren Bruder als einen Menschen, der sein Leben als eine Kette von Identitätskrisen lebt. Auf der Suche nach einer Zugehörigkeit, die über Familie hinaus geht. Seine Identifikation mit dem Deutschen (oder dem, was man damals dafür hielt) ging so weit, dass sich Georges-Arthur die Frage stellt : "Was wäre aus ihm geworden, wenn er 'Arier' gewesen wäre?" (S.67) Das plötzliche Ausgestoßensein, als Jude gebrandmarkt zu werden, während seine Mitschüler in HJ-Uniform Paraden abhalten, erlebt er als Trauma, das sich durch sein weiteres Leben zieht. Als Deutscher in der Résistance versucht er alles zu vermeiden, was seine Abstammung erkennbar machen könnte. "Es geht hier darum, das Leben eines vom historischen Unglück zutiefst gezeichneten Menschen nachzuerzählen, ..." (S. 21) könnte man als Fazit stehen lassen, denn das gezeichnet sein ist das eigentliche Thema des Buches, weniger das konkrete gelebte Leben. Uwe Timm hatte 2003 mit der Erzählung "Am Beispiel meines Bruders" ein Thema bearbeitet, das man als Kontrast zu dem hier besprochenen Buch lesen könnte. Timms älterer Bruder, ebenfalls Jahrgang 1924, setzte alles daran, in die Waffen-SS aufgenommen zu werden, was ihm auch gelang. Er starb an den schweren Verletzungen, die er 1943 in der Ukraine erlitten hat. ---------------------------- 1. "Alles Deutsche war Lebensinhalt für ihn." S. 15 ---------------------------- 9. Dezember 2023 |
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