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Leon Poliakov Der arische Mythos Léon Poliakov
Der arische Mythos.
Zu den Quellen von Ras­sis­mus und Na­tio­na­lis­mus.
Junius Verlag 1993, 431 Sei­ten
ISBN 3-88506-220-8

"Der arische Mythos", 1971 in fran­zö­si­scher Spra­che erst­mals er­schie­nen, sucht die Wur­zeln von Ras­sis­mus und Na­tio­na­lis­mus in den Ge­nea­lo­gien und My­then der Völ­ker und Na­tio­nen Eu­ro­pas. "Völ­ker­wan­de­rung" und Chris­tia­ni­sie­rung führ­ten zu struk­tu­rel­len Ver­än­de­run­gen im Selbst­ver­ständ­nis der Eliten, die He­raus­bil­dung eth­ni­scher Iden­ti­tä­ten mit der Folge von Ab­gren­zung und Aus­gren­zung des Fremden diente zu­gleich als Ge­gen­bild, Pro­jek­tions­flä­che und Be­stä­ti­gung ei­ge­ner Über­le­gen­heit.

Im 1. Teil des Buches un­ter­sucht Poliakov die Spu­ren ger­ma­ni­scher Ein­flüs­se in eu­ro­päi­schen Herr­scher­häu­sern, die bis in die Zeit der Völ­ker­wan­de­rung zu­rück rei­chen und die, ver­stärkt durch den Ein­fluss christlicher Ab­stam­mungs­my­then, Grund­la­ge bilden für ei­ne starke ge­sell­schaft­li­che Hie­rar­chi­sie­rung, die zu Vor­stel­lun­gen von Min­der­wer­tig­keit führt.

Im 2. Teil des Buches wid­met sich Poliakov dem "wis­sen­schaft­li­chen" Diskurs, in dem, vor allem seit dem 18. Jahr­hun­dert, Modelle ent­ste­hen, die sol­chen Vor­stel­lun­gen von Über­le­gen­heit und Min­der­wer­tig­keit eine objektive Grund­la­ge be­rei­ten wol­len. Der Skla­ven­han­del und seine Le­gi­ti­ma­tion durch kirchliche Au­to­ri­tä­ten spielt dabei eine we­sent­li­che Rol­le. Bis in der Rei­hen der Auf­klä­rer reicht Vo­ka­bu­lar und Denk­wei­se des Ras­sis­mus, Po­lia­kov führt da­für zahlreiche Be­le­ge an. Aus die­sem Milieu ent­wi­ckel­te sich im 19. Jahr­hun­dert die Dis­kus­sion um das Wesen und die Herkunft der Arier. Heu­te gro­tesk an­mu­ten­de De­bat­ten da­rü­ber ob Adam deutsch oder he­bräisch ge­spro­chen hat (die Fra­ge nach der ge­mein­sa­men "Ur­spra­che" der Mensch­heit soll­te da­mit be­ant­wor­tet wer­den), fan­den ebenso statt wie ver­wi­ckel­te Ar­gu­men­ta­tio­nen, dass Je­sus ein Arier und eben kein Ju­de ge­we­sen sein muss.

Dass in Deutschland der Ras­sis­mus seine be­son­de­re Aus­for­mung im Antisemitismus ge­fun­den hat, führt Po­lia­kov auch auf die unter fran­zö­si­scher Herr­schaft eingeführte Eman­zi­pa­tion der Juden zu­rück, die die bis dahin vor al­lem re­li­giös be­grün­de­te Dis­kri­mi­nie­rung der Juden auf ein neu­es Ni­veau hob. Pa­ral­lel dazu, und eng ver­knüpft mit der Fra­ge des Arier­tums, ent­wi­ckel­te sich die Vor­stel­lung der Juden als min­der­wer­ti­ge Ras­se, der pro­mi­nen­te Zeit­ge­nos­sen nicht nur folg­ten, son­dern sie – Beispiel Ri­chard Wagner – of­fen­siv pro­pa­gier­ten. Na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Pro­pa­gan­da be­dien­te sich groß­zü­gig aus diesem Fun­dus ras­sis­ti­scher und an­ti­se­mi­ti­scher Mo­del­le und trieb sie auf die Spit­ze.

Die Fülle des Materials aus den un­ter­schied­lichs­ten Be­rei­chen, die Po­lia­kov zur Un­ter­mau­e­rung sei­ner Thesen auf­führt, ist immens und be­ein­dru­ckend. Mat­thi­as Heyl zieht da­raus in sei­nem Vor­wort den fol­gen­den Schluss: "Au­schwitz ist dem­nach die ab­so­lu­te Zuspitzung des­sen, was sei­nen Ur­sprung in dem Fun­da­ment eu­ro­pä­ischer, auch und gerade mo­der­ner Kul­tur selbst hat." (S. 9) Ist das eine Re­la­ti­vie­rung der Ver­ant­wor­tung, die Deut­sche für die industrielle Ver­nich­tung jü­di­schen Le­bens haben? Heyl schließt deshalb an: "Be­tont sei jedoch, daß da­mit die Tat­sa­che, daß Au­schwitz von Deut­schen aus­ging, kei­nes­wegs ig­no­riert oder ni­vel­liert wird."

Léon Poliakov (1910 – 1997), ge­bo­ren in St. Pe­ters­burg, ge­stor­ben in Frankreich, wid­me­te den Groß­teil seiner pub­li­zis­ti­schen Tätigkeit der Er­for­schung des An­ti­se­mi­tis­mus. Bei­spiel­haft da­für ist die 8-bän­di­ge "Ge­schich­te des An­ti­se­mi­tis­mus", die Poliakov in den 70er Jahren des 20. Jahr­hun­derts ver­öf­fent­lich­te. Wei­te­re Spe­zial­un­ter­su­chun­gen – zum Teil mit Co­au­to­ren ver­fasst – be­schäf­ti­gen sich mit der Ju­den­ver­fol­gung im Drit­ten Reich und anderen As­pek­ten des Ras­sis­mus.

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5. März 2024

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