Kassiber | |||||
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Olga Tokarczuk Was sich zunächst wie Notizen, geschrieben in Zügen und Flugzeugen, liest, weitet sich immer wieder zu einer collageartigen Essayistik des modernen Nomadentums aus, zu Flucht und Verschwinden, erzählt aber auch vom Bewahren und Konservieren [1]. Beobachtend, reflektierend, erinnernd beschreibt die Autorin Momente, deren Besonderheit nicht immer auf den ersten Blick erkennbar ist, sich häufig aber aus späteren Bemerkungen ergibt. Immer wieder unterbrechen sie längere Erzählstränge. Es gibt Banales, Spektakuläres, Historisches, Medizinisches, die Autorin ist auf der Suche nach allem, "was kaputt, unvollkommen, defekt, zerbrochen ist. Mich interessiert das Unansehnliche, Irrtümer der Schöpfung, Sackgassen". S. 24 Drei Briefe der Josephine von Feuchtersleben, der Tochter Angelo Solimans [2], eines Afrikaners, der in verschiedenen Funktionen am Hof des Fürsten von Liechtenstein tätig war, um die Entfernung seines präparierten Körpers aus dem Kaiserlichen Naturalienkabinett zu erwirken; das rätselhafte Verschwinden einer Frau und ihrer Tochter bei einem Spaziergang auf einer Insel und ihr Wiederauftauchen; die anatomischen Studien des Chirurgen Philip Verheyen [3] und die Konservierungen, die sie begleiten, sowie die Reise des Herzens von Frederic Chopin nach Warschau umkreisen [4], neben vielen anderen, die Thematik von Leben und Tod, von Vergänglichkeit und Wandel. Reisen, entfernen, annähern, suchen: Unrast. Der Originaltitel, 'Bieguni', ist der Name einer Sekte [5], deren Mitglieder der Annahme waren, der Teufel würde ihrer habhaft werden, wenn sie nicht ständig unterwegs wären. Illustriert ist das Buch mit Landkarten aus verschiedenen Epochen. Olga Tokarczuk (Jahrgang 1962) erhielt den Nobelpreis für Literatur des Jahres 2018. Sie war als Psychologin in der Tradition von Carl Gustav Jung tätig, inzwischen arbeitet sie ausschließlich literarisch. ---------------------------- 1. "1677 konnt man in Prag beim heiligen Veit Folgendes besichtigen: die unversehrten Brüste der heiligen Anna in einem verschlossenen Kristallglas; den Kopf des heiligen Märtyrers Stefan, den Kopf von Johannes dem Täufer. Bei den Schwestern der heiligen Theresa wurde Interessierten das dreihundert Jahre zuvor verstorbene kleine Nönnchen gezeigt, das bestens erhalten hinter einem Gitter saß. Bei den Jesuiten hingegen gab es den Kopf der heiligen Ursula und den Hut nebst einem Finger des heiligen Xaver zu bewundern." S. 121f 2. Angelo Soliman (um 1721 bis 21. November 1796) wurde als Sklave nach Europa gebracht und wurde an verschiedenen Fürstenhäusern als Kammerdiener beschäftigt. Bei Fürst Wenzel von Liechtenstein stieg er zum Chef der Dienerschaft auf. 1781 wurde er Mitglied der Freimaurerloge "Zur wahren Eintracht" in Wien. Nach seinem Tod 1796 wurde seine Haut präpariert und als "Wilder" mit Federn und Muschelkette im Kaiserlichen Naturalienkabinett zur Schau gestellt. 1848 verbrannte sein Körper während des Wiener Oktoberaufstandes. 3. 1648 bis 1710, Chirurg und Anatom. Nach der Amputation seines linken Beines studierte er Medizin und entwickelte neuartige Methoden der Konservierung. 4. Nach Frederic Chopins Tod am 17. Oktober 1849 in Paris, wurde auf seinen Wunsch eine Obduktion vorgenommen, bei der sein Herz entnommen wurde, um in der Heilig-Kreuz-Kirche in Warschau bestattet zu werden. Seine Schwester Ludwika brachte das in Alkohol eingelegte Herz heimlich über die Grenzen, wo sie es zunächst für einige Wochen in ihrer Wohnung aufbewahrte. Dann verbrachte man es in die Kellerräume der Heilig-Kreuz-Kirche, wo es später in eine Säule des Hauptschiffs der Kirche eingemauert wurde. 5. Eine christliche russische Sekte, die seit dem 18. Jahrhundert existiert und deren Nachfahren noch immer jeden Besitz und jede Form der Sesshaftigkeit ablehnen. Die Autorin begegnet einem Mitglied, Annuschka, in einem Moskauer U-Bahnhof. ---------------------------- 25. November 2022 |
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