Kassiber leer
Autoren Glossen Lyrik

Robert Harris: Intrige Robert Harris
Intrige
Übersetzt von Wolfgang Müller
Heyne Verlag 2013, 622 Seiten
ISBN 9783453268784

Am 5. Januar 1895 wird der Haupt­mann der fran­zö­si­schen Ar­mee, Alfred Dreyfus, öffent­lich degradiert. Die Epau­letten wer­den von sei­nen Schultern ge­ris­sen, die Knöpfe von der Uni­form­jacke und die roten Strei­fen von der Hose, sein Sä­bel wird zerbrochen. An­schließend muss er an den an­ge­tre­te­nen zwei Kom­pa­nien ehemaliger Kame­raden ent­lang mar­schie­ren, denen ih­re ganze Ver­ach­tung für den Va­ter­lands­verräter an­zu­se­hen ist. Ein Kriegs­ge­richt hatte ihn ein­stim­mig des Hochverrats für schul­dig befunden und zu le­bens­langer Haft verurteilt, er wird deportiert wer­den auf die Ile du Diable [1], wo er der ein­zi­ge Ge­fan­ge­ne sein wird. Drey­fus war 1859 in Mul­house im Elsass geboren wor­den, er sprach Fran­zö­sisch mit deut­schem Ein­schlag, und er war Jude. Nach der Niederlage Frank­reichs im Krieg 1870/71 ge­gen Deutsch­land war Mül­hau­sen dem Deutschen Reich ein­ver­leibt worden, da­rü­ber herrsch­te nach wie vor Ver­bit­te­rung in der Be­völ­ke­rung und man war miss­trauisch ge­gen­über El­säs­sern. Aber vor al­lem trau­te man Juden, dem »Volk ohne Hei­mat«, jeden Ver­rat, jede Schand­tat zu.

Marie-Georges Picquart [2] wird im sel­ben Jahr, in dem Drey­fus de­gra­diert und de­por­tiert wor­den war, zum Lei­ter des Deuxieme Bureau (im Ro­man Statistik-Abteilung ge­nannt), dem Aus­lands­ge­heim­dienst der fran­zösischen Ar­mee, ernannt. Man fordert ihn auf, nach weiteren Beweisen für Dreyfus' Schuld zu su­chen. Dabei stößt er auf Hin­wei­se, dass es einen weiteren Ver­rä­ter in den Reihen der fran­zösischen Armee geben muss. Schließlich ge­langt er zu der Über­zeu­gung, dass nicht Drey­fus der Verräter ge­we­sen ist, der Informationen an die Deutsche Botschaft ver­kauft hat, sondern ein an­de­rer: Major Esterhazy, der schon in der Ver­gangen­heit durch dubioses Fi­nanz­ge­ba­ren auf­ge­fal­len war. Seine Vor­ge­setzten und meh­rere Mi­nis­ter bestehen auf Drey­fus' Schuld, aber Picquart fin­det schließlich heraus, dass die Beweise gegen Dreyfus zum Teil gefälscht, zum an­de­ren Teil falsch interpretiert wor­den sind. Man schiebt ihn nach Nord­afrika ab, es kommt zu mehreren Verfahren, die sich jetzt auch gegen ihn rich­ten, Dreyfus wird er­neut für schul­dig be­fun­den.

Nach und nach finden sich Per­so­nen, die eben­falls Zwei­fel an Dreyfus' Schuld hegen, man for­dert eine Wie­der­auf­nah­me des Verfahrens. Doch die Macht­haber schlagen zu­rück, Picquart wird ver­haftet, Zola ver­ur­teilt [3] (er flieht nach Lon­don), Beweise wer­den ge­fälscht, Ver­leum­dun­gen in die Welt gesetzt, po­tentielle Zeu­gen begehen Sui­zid usw. Picquart wird un­eh­ren­haft aus der Armee ent­las­sen. Doch sei­ne Hart­nä­ckig­keit trägt Früch­te. In einem wei­te­ren Verfahren wird Drey­fus' Stra­fe auf 10 Jah­re re­du­ziert, später wird er be­gna­digt wer­den. Erst 1906 wird Drey­fus von allen Vor­würfen frei­gesprochen und Picquart eben­falls re­ha­bi­li­tiert, er wird noch im selben Jahr zum Kriegs­minister ernannt [4].

Obwohl der Roman viele De­tails zu den gefälschten Be­weisen auf­führt und die di­ver­sen Ver­neh­mun­gen aus­führ­lich dar­ge­stellt werden, bleibt die Span­nung – von we­ni­gen Aus­nahmen ab­ge­se­hen – auf ho­hem Niveau erhalten. Der An­ti­semitismus, der da­mals in Frankreich so weit verbreitet war, dass man die Stimmung ge­gen Dreyfus quasi nach Be­lie­ben steuern konnte, wird ein­dringlich ge­schildert, selbst Picquart ist von ihm durch­drungen, er behält bis zum Schluss dem Men­schen Drey­fus gegenüber seine Vor­be­hal­te, vor allem weil er Jude ist. Nur der Drang nach Ge­rech­tig­keit und der Wunsch, seine ge­lieb­te Armee von jedem Fehl­verhalten zu rei­ni­gen, lässt ihn sich derart engagieren, dass er selbst zum Opfer wird.

Im Kern der Macht keimt aber immer auch ihr Miss­brauch. Das hat sich seitdem nicht ge­än­dert.

----------------------------

1. Teufelsinsel, Französisch-Gua­yana. Wurde zwischen 1852 und 1946 als Straf­kolonie für ver­ur­teil­te Schwerverbrecher ge­nutzt. Viele Gefangene über­lebten die un­mensch­li­chen Haft­be­din­gun­gen nicht.

2. *1854 in Strasbourg, † 1914 in Amiens.

3. Am 13. Januar 1898 erschien in der liberalen Zeitschrift L'Au­rore Zolas offener Brief an den Prä­si­den­ten der Französischen Re­pu­blik, Félix Faure, mit der in­zwischen legendären Überschrift J'Accuse...!. Darin zählt er all die Gründe auf, die gegen Dreyfus als Verräter sprechen und klagt die­jenigen an, die sich bewusst für eine Verurteilung Dreifus' und für den Frei­spruch von Esterhazy en­ga­giert haben. Er will damit einen Prozess gegen sich selbst provozieren, in dem dann erneut über Dreyfus und Esterhazy ver­han­delt werden könnte. Doch man reduziert die Anklage gegen ihn auf nur drei Passagen aus seinem Brief, Dreyfus und Esterhazy dürfen in dem Verfahren gegen ihn nicht erwähnt werden. Zola wird wegen Beleidigung zu einem Jahr Gefängnis und einer Geld­strafe in Höhe von 3000 Francs verurteilt. Auf Rat seiner Ver­tei­di­ger entzieht er sich der Strafe Mitte Juli 1898 durch seine Flucht nach London.

4. Ernannt wurde er vom Minis­ter­präsidenten Georges Cle­men­ceau, der 1898 Heraus­geber der Zeit­schrift L'Aurore war, in der Zola seinen offenen Brief J'Accuse veröffentlichen konnte.

----------------------------

31. Juli 2020

Gelesen : Weiteres : Impressum