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Die Geschichte der Kartause auf der INSEL reicht bis ins 14. Jahrhundert zurück. Wechselvolle Zeitläufte haben Spuren hinterlassen, und das Gebäude befindet sich mittlerweile in einem eher schlechten Zustand. Die Bewohner der INSEL haben ein ambivalentes Verhältnis zu den vier Mönchen, die die Kartause bewohnen. Doch jedes Jahr, wenn die Mönche die "Pieta Dell'Isola" im Gedenken an die vielen Pestopfer des 17. Jahrhunderts über die INSEL tragen, schließen sich die Menschen ihnen zu einer großen Prozession an. Sebastiano kehrt nach dem 2. Weltkrieg auf die INSEL zurück und betätigt sich als Steinmetz, der die maroden Teile der Kartause wieder instand setzen soll. Er ist mit Immacolata verlobt, die Heirat soll in naher Zukunft erfolgen. Doch die Katastrophe, die Sebastiano nahezu alle seine Sinne verlieren lässt, verhindert diese Pläne. Während er Kalk löschte, kam es zu einer Explosion, die ihn fast blind, gehörlos und ohne Erinnerungen zurückließ. Immacolata war Augenzeugin des Vorfalls und erleidet wenige Monate später eine Fehlgeburt. Sebastiano durchstreift fortan die INSEL, unansprechbar, unsicheren Schrittes, auf die Unterstützung der Bevölkerung angewiesen, die ihn mit Nahrung versorgt. Eines Tages erscheint Sebastiano in der kleinen Kirche, in der Padre Rocca seine Morgenmesse liest. Obwohl er nichts um sich herum wahrzunehmen scheint, auch nicht die nervöse Reaktion des Padres, erscheint er fortan regelmäßig. Dann, an einem 19. September, es ist der Tag der großen Prozession, sind es nur drei Mönche, die die "Pieta Dell'Isola" zur Hauptkirche der INSEL tragen sollen, der vierte hatte sich kurz zuvor aufs Festland abgesetzt. Und es ist Sebastiano, der die Lücke füllt und als vierter Träger der schweren Skulptur auftritt, um die Prozession erfolgreich durchführen zu können. Es ist ein Leidensweg, den er beschreitet, und am Ende bricht er unter der allzu großen Last zusammen. Immacolata stürzt herbei, und in ihren Armen findet er seine Sprache wieder und stirbt. Ein Wunder ist geschehen und wird von der Bevölkerung umgehend begeistert gefeiert. Doch es gibt noch einen Subtext, der bei aufmerksamem Lesen eine andere Geschichte schreibt. Eine Geschichte von Missbrauch, eines rätselhaften Todes und der unaufgeklärten Umstände, die zur Katastrophe um Sebastiano geführt haben. Selten habe ich einen Text gelesen, der so subtil eine zweite Handlungsebene andeutet, die sich nach und nach zu einem sich kriechend ausbreitenden Schrecken entwickelt. Große Literatur in meinen Augen. Gustaw Herling-Grudzinski (1919 – 2000) arbeitete als Schriftsteller, Journalist und Literaturkritiker. Er wurde 1919 im polnischen Kielce in einer jüdischen Familie geboren, studierte Polonistik. Während der deutschen Besatzung schloss er sich der polnischen Widerstandsbewegung an, wurde vom NKWD festgenommen und zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt. Nach Kriegsende blieb er im Exil in England und Italien, wo er die meiste Zeit seines Lebens verbrachte. Er wurde mehrfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet. Die INSEL ist Capri, die Handlung spielt in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. 9. Februar 2025 |
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