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Gustaw Herling Die Insel Gustaw Herling
Die Insel.
Aus dem Polnischen von Ma­ry­la Rei­fen­berg.
Carl Hanser Verlag 1994, 120 Sei­ten, ISBN 3-446-17682-9

Die Geschichte der Kar­tau­se auf der IN­SEL reicht bis ins 14. Jahr­hun­dert zu­rück. Wech­sel­vol­le Zeit­läuf­te ha­ben Spu­ren hin­ter­las­sen, und das Ge­bäu­de be­fin­det sich mitt­ler­wei­le in ei­nem eher schlech­ten Zu­stand. Die Be­woh­ner der IN­SEL ha­ben ein am­bi­va­len­tes Ver­hält­nis zu den vier Mön­chen, die die Kar­tau­se be­woh­nen. Doch je­des Jahr, wenn die Mön­che die "Pie­ta Dell'­Iso­la" im Ge­den­ken an die vie­len Pest­op­fer des 17. Jahr­hun­derts über die IN­SEL tra­gen, schlie­ßen sich die Men­schen ih­nen zu ei­ner gro­ßen Pro­zes­sion an.

Sebastiano kehrt nach dem 2. Welt­krieg auf die IN­SEL zu­rück und be­tä­tigt sich als Stein­metz, der die ma­ro­den Tei­le der Kar­tau­se wie­der in­stand set­zen soll. Er ist mit Im­ma­co­la­ta ver­lobt, die Hei­rat soll in na­her Zu­kunft er­fol­gen. Doch die Ka­tas­tro­phe, die Se­bas­tia­no na­he­zu alle sei­ne Sin­ne ver­lie­ren lässt, ver­hin­dert die­se Plä­ne. Wäh­rend er Kalk lösch­te, kam es zu ei­ner Ex­plo­sion, die ihn fast blind, ge­hör­los und ohne Er­in­ne­run­gen zu­rück­ließ. Im­ma­co­la­ta war Au­gen­zeu­gin des Vor­falls und er­lei­det we­ni­ge Mo­na­te spä­ter eine Fehl­ge­burt.

Sebastiano durch­streift fort­an die IN­SEL, un­an­sprech­bar, un­si­che­ren Schrit­tes, auf die Un­ter­stüt­zung der Be­völ­ke­rung an­ge­wie­sen, die ihn mit Nah­rung ver­sorgt.

Eines Tages er­scheint Se­bas­tia­no in der klei­nen Kir­che, in der Pa­dre Roc­ca sei­ne Mor­gen­mes­se liest. Ob­wohl er nichts um sich he­rum wahr­zu­neh­men scheint, auch nicht die ner­vö­se Re­ak­tion des Pa­dres, er­scheint er fort­an re­gel­mä­ßig.

Dann, an ei­nem 19. Sep­tem­ber, es ist der Tag der gro­ßen Pro­zes­sion, sind es nur drei Mön­che, die die "Pie­ta Dell'­Iso­la" zur Haupt­kir­che der IN­SEL tra­gen sol­len, der vier­te hat­te sich kurz zu­vor aufs Fest­land ab­ge­setzt. Und es ist Se­bas­tia­no, der die Lü­cke füllt und als vier­ter Trä­ger der schwe­ren Skulp­tur auf­tritt, um die Pro­zes­sion er­folg­reich durch­füh­ren zu kön­nen. Es ist ein Lei­dens­weg, den er be­schrei­tet, und am Ende bricht er un­ter der all­zu gro­ßen Last zu­sam­men. Im­ma­co­la­ta stürzt her­bei, und in ih­ren Ar­men fin­det er sei­ne Spra­che wie­der und stirbt. Ein Wun­der ist ge­sche­hen und wird von der Be­völ­ke­rung um­ge­hend be­geis­tert ge­fei­ert.

Doch es gibt noch ei­nen Sub­text, der bei auf­merk­sa­mem Le­sen eine an­de­re Ge­schich­te schreibt. Eine Ge­schich­te von Miss­brauch, eines rät­sel­haf­ten To­des und der un­auf­ge­klär­ten Um­stän­de, die zur Ka­ta­stro­phe um Se­bas­tia­no ge­führt ha­ben. Sel­ten habe ich ei­nen Text ge­le­sen, der so sub­til eine zwei­te Hand­lungs­e­be­ne an­deu­tet, die sich nach und nach zu ei­nem sich krie­chend aus­brei­ten­den Schre­cken ent­wi­ckelt. Gro­ße Li­te­ra­tur in mei­nen Au­gen.

Gustaw Herling-Grud­zins­ki (1919 – 2000) ar­bei­te­te als Schrift­stel­ler, Jour­na­list und Li­te­ra­tur­kri­ti­ker. Er wur­de 1919 im pol­ni­schen Kiel­ce in ei­ner jü­di­schen Fa­mi­lie ge­bo­ren, stu­dier­te Po­lo­nis­tik. Wäh­rend der deut­schen Be­sat­zung schloss er sich der pol­ni­schen Wi­der­stands­be­we­gung an, wur­de vom NKWD fest­ge­nom­men und zu fünf Jah­ren La­ger­haft ver­ur­teilt. Nach Kriegs­en­de blieb er im Exil in Eng­land und Ita­lien, wo er die meis­te Zeit sei­nes Le­bens ver­brach­te. Er wur­de mehr­fach mit Li­te­ra­tur­prei­sen aus­ge­zeich­net. Die IN­SEL ist Ca­pri, die Hand­lung spielt in den 50er und 60er Jah­ren des 20. Jahr­hun­derts.


9. Februar 2025

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