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Imre Kertész: Liquidation Imre Kertész
Liquidation. Roman.
Aus dem Un­ga­ri­schen von Laszlo Kornitzer und Ingrid Krüger
Rowohlt Taschen­buch 2005, 142 Sei­ten
ISBN 3 499 24156 0

Keseru, Lektor in ei­nem Bu­da­pes­ter Ver­lag, steht am Fens­ter sei­ner Woh­nung und be­ob­ach­tet Ob­dach­lo­se, die auf ei­ner Bank auf der an­de­ren Stra­ßen­sei­te la­gern. Er fragt sich, wo­her sein immer wie­der­keh­ren­des vo­yeu­ris­ti­sches In­te­res­se kommt und ver­mu­tet, dass er sein ei­ge­nes Leben bes­ser be­grei­fen könn­te, wüss­te er den Grund. Er wen­det sich sei­nem Schreib­tisch zu und liest im Ma­nu­skript ei­nes Thea­ter­stücks mit dem Titel "Li­qui­da­tion. Ko­mö­die in drei Ak­ten". Das Manuskript ist Teil des Nach­las­ses seines Freun­des und Mentors B., der sich zu­vor mit ei­ner Über­dosis Mor­phi­um ums Leben ge­bracht hat­te. Das Stück be­schreibt Sze­nen und Ge­sprä­che, die auf sehr ähn­li­che Wei­se spä­ter tat­säch­lich statt­ge­fun­den ha­ben. Keseru selbst er­scheint in dem Stück als der, der er ist und der nach dem Tod des Freundes den li­te­ra­ri­schen Nach­lass an sich bringt, um ihn vor dem Zugriff der Polizei zu be­wah­ren. Er staunt über die Ge­nau­ig­keit, mit der B. seine Mit­ar­bei­ter und Freunde in Zu­kunft han­deln und re­den lässt und fragt sich, ob er selbst den Text viel­leicht als Vor­la­ge für sein ei­ge­nes Han­deln be­trach­tet hat.

B. war Ende 1944 in Ausch­witz Bir­ke­nau ge­bo­ren wor­den, nach dem Krieg kam er in ein Wai­sen­haus, aus dem er floh. Spä­ter arbeitete er in dem sel­ben Verlag wie Ke­se­ru als Lek­tor für fremd­spra­chi­ge Li­te­ra­tur. Er lebt zu­rück­ge­zo­gen, en­ga­giert sich für nichts, schreibt. Sei­ne Frau (Judit) trennt sich von ihm, hei­ra­tet spä­ter wie­der; sie ar­bei­tet als Ärz­tin in ei­nem Kran­ken­haus. Sá­ra, die eben­falls in dem Ver­lag ar­bei­tet, wird seine letz­te Ge­lieb­te. Sie fin­det ihn, nach­dem er durch die Über­dosis Mor­phi­um ums Le­ben ge­kom­men war.

1999, der ge­sell­schaft­liche Wan­del im ehe­ma­li­gen Ost­block hat viele Un­ge­wiss­hei­ten mit sich ge­bracht, Hoff­nun­gen sind zu Illusionen ge­wor­den, Be­trie­be sind ge­schlos­sen wor­den, der Ver­lag ist ebenfalls li­qui­diert worden, und Ke­se­ru denkt noch im­mer da­rü­ber nach, den Nach­lass sei­nes Freun­des zu ver­öf­fent­li­chen. Aber es gibt ei­ne Leer­stel­le in die­sem Nach­lass, et­was fehlt, da ist er sich sicher. Ein Ro­man, über den B. im­mer wie­der mal An­deu­tun­gen ge­macht hat, aber im­mer ge­leug­net hat, dass es ihn gibt. Die Su­che da­nach wird zu ei­ner Ob­ses­si­on.

Er bedrängt Judit, die schließ­lich zugibt, B. über län­gere Zeit mit Mor­phi­um ver­sorgt zu ha­ben. Spä­ter, nach ei­nem län­ge­ren Ge­spräch, ge­steht sie auch ein, B.s Roman von ihm be­kom­men zu ha­ben und un­mit­tel­bar vor seinem Tod auf sei­nen drin­gen­den Wunsch hin verbrannt zu ha­ben.

Keseru steht wieder am Fens­ter und beobachtet die Ob­dach­lo­sen, deren Le­ben nur aus Ge­gen­wart zu bestehen scheint. Könn­te er einer von ih­nen sein? Der Bild­schirm des Com­pu­ters leuch­tet in der Däm­me­rung. Zwei Schalt­flä­chen for­dern auf: Gehe wei­ter. Ab­bre­chen.

Obwohl die Realität in Au­schwitz nur selten Er­wäh­nung fin­det, liegt der Schre­cken, für den der Na­me steht, über al­lem und je­dem. Kei­ner bleibt da­von unbe­scha­det, auch die nicht, die kei­ne Op­fer wa­ren. Au­schwitz spie­gelt sich in den Schick­sa­len der Über­le­ben­den und ihrer Nach­kom­men.

Handlungs- und Zeit­e­be­nen des Romans sind mehr­fach in­ei­nan­der ver­schränkt, es ist nicht ein­deu­tig, ob es einen Er­zäh­ler gibt und wer es sein könn­te. Das Ge­sche­hen setzt sich frag­men­ta­risch zu­sam­men und bleibt un­voll­ständig. Das Ab­we­sen­de ist be­deu­ten­der als die so­ge­nann­te Wirk­lich­keit. Und wo­mög­lich ist das, was wir ge­ra­de gelesen ha­ben, der von B. ge­schrie­be­ne Ro­man. Aber womöglich auch nicht.

Imre Kertész [1] (1929 – 2016) bekam 2002 den Li­te­ra­tur­no­bel­preis ver­lie­hen, Li­qui­da­tion er­schien ein Jahr da­nach. Es gilt als Abschluss ei­ner Tetra­logie, deren an­de­re Tei­le "Ro­man ei­nes Schick­sal­losen", "Fias­ko" und "Kad­disch für ein nicht ge­bo­re­nes Kind" sind.

Zitate:
"Die Hamletfrage hieß für Ke­se­ru nicht: Sein oder Nicht­sein, son­dern: Bin ich, oder bin ich nicht." S. 12

"Dort in jenem Amts­zim­mer, wo sich, wie ich emp­fand, die gan­ze Gleich­gül­tig­keit der Welt ver­dich­te­te, dort habe ich be­grif­fen, daß alle Ge­schich­ten zu Ende sind, daß un­ser aller Ge­schich­te eine un­er­zähl­ba­re ist und daß er, B., der einzige war, der da­raus auf seine Wei­se, also so, wie er es immer tat, das heißt ra­di­kal, die Kon­se­quenz ge­zo­gen hatte." S. 33

"Und mir kam in den Sinn, daß allein die Li­te­ra­tur im­stan­de ist, die Kontinuität, die Un­ge­bro­chen­heit unseres Le­bens wie­der­her­zu­stel­len, und daß wir ei­gent­lich hier waren, da­mit ich an den ver­schwun­de­nen Ro­man von B. heran­kam." S. 105

"Doch ich glaube an die Li­te­ra­tur. An nichts sonst, einzig und al­lein an die Literatur. Die Men­schen leben wie die Wür­mer, aber sie schrei­ben wie die Göt­ter. Einst war es ein be­kann­tes Ge­heim­nis, heu­te ist es in Ver­ges­sen­heit ge­ra­ten: Die Welt be­steht aus Scher­ben, die aus­ein­an­der­fal­len, sie ist ein dunk­les, zu­sam­men­hang­lo­ses Cha­os, al­lein vom Schrei­ben zu­sam­men­ge­hal­ten. Daß du eine Vor­stel­lung von der Welt hast, daß du weißt, was alles in der Welt ge­sche­hen ist, ja, daß du über­haupt eine Welt hast: das alles hat das Schrei­ben für dich er­schaf­fen und er­schafft es un­un­ter­bro­chen, es ist der un­sicht­ba­re Spin­nen­fa­den, der unser aller Leben zu­sam­men­hält, der Lo­gos." S. 107

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1. Imre Kertész war 14 Jah­re alt, als er im Juli 1944 zu­erst nach Ausch­witz, dann nach Bu­chen­wald und schließ­lich ins Au­ßen­la­ger Wille ge­bracht wur­de. Sein lite­ra­risches Werk bewegt sich im We­sent­li­chen um die­sen Kom­plex und seine Aus­wir­kun­gen für den Ein­zel­nen in der Ge­mein­schaft.

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6. September 2020

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