Nelly Sachs,
eigentl.: Leonie Sachs, * 10. 12. 1891 Berlin, † 12. 5. 1970 Stockholm; – Lyrikerin,
Dramatikerin, Übersetzerin.
»Meine Bücher
enthalten alles, was vielleicht einer oder der andere wissen will über
mein Leben [...] – ich aber will, daß man mich gänzlich ausschaltet
– [...]« (Briefe der Nelly Sachs. Hg. von Ruth Dinesen und Helmut Müssener.
Ffm. 1984, S. 218). Tatsächlich ist es der in einer großbürgerlichen
Berliner Villa aufgewachsenen, später im Stockholmer Exil lebenden Sachs
gelungen, ihre »Dinge hinzugeben, [...] selbst aber im Dunkeln zu verschwinden«
(ebd., S. 238). Den gedanklichen Reichtum und die Erlebnisse dieses Lebens,
das äußerlich weitgehend ereignislos verlief, erfährt der Leser
durch ihre Dichtung, der Sachs existenzielle Bedeutung zusprach.
Abgeschirmt von Tagespolitik
und aktuellen literarischen Strömungen, genoss die Tochter des Fabrikanten
William Sachs eine behütete Kindheit. Ihre Schulbildung erhielt sie weitgehend
privat, und die väterliche Bibliothek, Zeugnis einer bürgerlich-konservativen
wie freigeistigen Gesinnung, mag sie neben der Lektüre von Selma Lagerlöfs
Gösta Berling zu eigenen literarischen Versuchen angeregt haben.
Bis in die 30er Jahre
hinein entstanden so neoromantische Gedichte sowie die Legenden und Erzählungen
(Bln. 1921). Erst unter dem Druck der nationalsozialistischen Machtübernahme
beschäftigte sich Sachs mit dem jüdischen Glauben ihrer Vorväter
und dem Chassidismus, sie las Jacob Böhme und die Kabbala, das Hauptwerk
jüdischer Mystik.
Der entscheidende Wendepunkt
in ihrem Leben und Werk fiel in das Jahr 1940, als ihr in allerletzter Minute
nach Jahren des Schreckens und der Angst vor nationalsozialistischem Terror
die Flucht nach Schweden gelang. In einem Stockholmer Mietshaus, beengt, unkomfortabel
und bis zuletzt stets unter dem Anschein eines Provisoriums, lebte Sachs fortan
bis zu ihrem Tod. Hier entstand die alsbald einsetzende Lyrik, die ihren Ruf
begründete und die sich radikal von ihren in Deutschland entstandenen Werken
unterscheidet.
Sachs war über 50
Jahre alt, als durch Vermittlung Johannes R. Bechers 1947 ihr erster Gedichtband,
In den Wohnungen des Todes, im Ostberliner Aufbau Verlag erschien. Die
ersten Veröffentlichungen, zu denen auch Sternverdunkelung. Gedichte
(Amsterdam 1949) u. Eli. Ein Mysterienspiel vom Leiden Israels (Malmö
1951) zu rechnen sind, beziehen sich ganz augenscheinlich auf die Greuel und
Verfolgungen der NS-Zeit, ohne allerdings den Anspruch zu erheben, konkret Zeugnis
abzulegen; vielmehr wird in pathetischer Klage Schmerz und Angst der Verfolgten
festgehalten, Leid und Tod in einer Sprache umkreist, deren Ton getragen ist
und deren Metaphern die Bezüge zur schmerzhaft erfahrenen Realität
ins Kosmische erweitern.
In diesem Ton lyrischer
Monologe, der sich mitunter ins Visionäre steigert, sind auch die szenischen
Dichtungen Sachs' abgefasst, die sich zum Ziel setzen, ein Wort, Tanz, Musik
und Mimus integrierendes Schauspiel zu inszenieren.
Bereits in die erste Zeit
ihres Stockholmer Aufenthalts fielen erste Übersetzungen moderner schwedischer
Lyrik ins Deutsche. Besondere Beachtung erfuhren die Anthologien Von Welle
und Granit (Berlin 1947) und Aber auch die Sonne ist heimatlos (Darmstadt
1957). Erst im Exil begegnete Sachs auf diese Weise dem französischen Surrealismus
verpflichteten Techniken der Lyrik. Dementsprechend betonte Peter Sager neben
allgemein anerkannten, schon in der Berliner Zeit wirkenden romantischen und
mystischen Einflüssen besonders die Bedeutung des »ausgeprägten
Hang[s] der modernen schwedischen Lyrik zu einer kosmischen Erlebnisintensität,
verbunden mit ekstatischer Naturbetrachtung« für ihre sich abstrakter
und kühner normbrechend entwickelnde Dichtung (Die Lyrikerin Nelly Sachs.
In: Neue Deutsche Hefte 128, 1970, S. 26-45).
Die Tendenz zur Verselbstständigung
der Sprache wird in den Gedichtbänden Und niemand weiß weiter
(Hamburg/München. 1957) und Flucht und Verwandlung (Stuttgart 1959) immer deutlicher,
bis in der Spätlyrik Ansätze einer universalen Mystik auftauchen (Noch
feiert Tod das Leben. In: Fahrt ins Staublose. Die Gedichte der Nelly Sachs.
Frankfurt 1961. 1988. Glühende Rätsel I-IV. I-III in: Späte
Gedichte. Frankfurt 1965. IV in: Jahresring 1966/67, S. 7-13). Hatte Sachs zu Beginn
ihres Schaffens behauptet, sie schreibe, um zu überleben, so geht es nun,
im Spätwerk, um das »Verlernen von Welt«. Das Wort, gemäß
kabbalistisch-wortmystischer Grundkonzeption vor den Dingen existent und mächtig,
wird als Geschenk des Todes empfunden, als Aufgabe, das nur im Dichten gerechtfertigte
Leben zu gestalten. In der zyklischen Dichtung sind Titel und syntaktische Zusammenhänge
aufgegeben zugunsten einer ganz von Alltagssprache und rationaler Diskursivität
abgelösten Metaphernkombinatorik. Sie gibt kurz und prägnant, oftmals
durch Gedankenstriche sich selbst unterbrechend, Zeugnis von mystischer Erfahrung.
Das Wort wird als spirituelle Realität erlebt, Schreiben vermittelt dieses
Erlebnis. Die sprachlichen Zeichen deuten auf eine hinter der Sprache liegende
Sinnsphäre: »Lichterhelle kehrt ein in den dunklen Vers / weht mit
der Fahne Verstehen / Ich soll im Grauen suchen gehen / Finden ist woanders«
(Glühende Rätsel I, S. 153).
Unbeirrt durch Adornos
Diktum, nach Auschwitz könne man keine Gedichte mehr schreiben, wahren
auf diese Weise Sachs' Gedichte den Stolz und das Pathos einer elegischen Sprache,
die aus Exil und Isolation heraus die Königswörter der Romantik noch
einmal neu belebt und als hartnäckig erfochtenen, paradoxen und normbrechenden
Gesang der Moderne bewahrt. Erst in den 60er Jahren wurde Sachs in Deutschland
entdeckt und zunehmend rezipiert; sie trat ein wenig aus ihrer Isolation heraus,
befreundete sich u. a. mit Paul Celan, Alfred Andersch,
Hans Magnus Enzensberger. Auch Ehrungen wurden ihr zuteil: Sie erhielt u. a.
1958 den Literaturpreis des Verbandes der schwedischen Lyriker, 1965 den Friedenspreis
des deutschen Buchhandels und 1966 den Nobelpreis für Literatur (zusammen mit
Samuel Joseph Agnon). Trotz dieser Anerkennung war das letzte Jahrzehnt ihres
Lebens großen persönlichen Belastungen ausgesetzt. Nach einer Reise
nach Zürich und Paris im Jahr 1960 brach sie zusammen, Flucht und Verfolgung
wurden wieder in ihr wach und ließen sie nicht mehr los – so musste sie
bis zu ihrem Lebensende immer wieder für lange Zeit in Kliniken und Nervenheilanstalten
leben. Auf diese Weise löste sich Sachs nie von Tod und Verfolgung; nicht
nur die frühe, konkrete, auch die späte, dunkle Dichtung entstand
in der Auseinandersetzung mit dem Tod und einem verzweifelten, schutzsuchenden
Leben.
(Dieser Text basiert auf dem entsprechenden Eintrag in 'Wilpert: Lexikon der Weltliteratur' und wurde von mir modiziert)
Sekundärliteratur:
-Dinesen, Ruth: Nelly Sachs. Eine Biographie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1992.
-Aris Fioretos: Flucht und Verwandlung – Nelly Sachs, Schriftstellerin, Berlin – Stockholm. Ein Katalogbuch mit etwa 400 Bildern. Übers. Paul Berf. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010
-Fritsch-Vivié, Gabriele: Nelly Sachs mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. rowohlt monographie 496, Reinbek b. Hamburg 1993.
-Daniel Pedersen: Nelly Sachs. 3. Aufl., Text + Kritik, München 2017.
-Florian Strob, Charli Louth (Hgg.): Nelly Sachs im Kontext – eine "Schwester Kafkas"? Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2014
-Wiedemann, Barbara (Hrsg): Paul Celan / Nelly Sachs: Briefwechsel. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1993.
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