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Urs Widmer Der Geliebte der Mutter Urs Widmer
Der Geliebte der Mut­ter.
Süddeutsche Zeitung 2007, 126 Sei­ten, ISBN 978-3-86615-508-4

Das Leben der Mutter als Er­wach­se­ne wird do­mi­niert von ih­rer un­er­wi­der­ten Lie­be zu Ed­win, ei­nem Di­ri­gen­ten, des­sen Kar­rie­re sie ak­tiv för­dert, um schließ­lich nicht ein­mal mehr ei­ne Rand­figur in sei­nem Le­ben zu sein. Da­ran lei­det und zer­bricht sie.

Von Kindheit an daran ge­wöhnt, nicht er­wünscht und nutz­los zu sein, ver­schreibt sie sich mit Hin­ga­be ih­rer Auf­ga­be als Mäd­chen für al­les, als sich ihr die Ge­le­gen­heit bie­tet, dem jun­gen, hoch­ta­len­tier­ten Di­ri­gen­ten Ed­win und sei­nem Or­ches­ter, das vor­erst noch aus Lai­en be­steht, zur Hand zu ge­hen. Ihre Auf­ga­ben wer­den mit der Zeit ver­ant­wor­tungs­vol­ler und zie­hen auch die Auf­merk­sam­keit Ed­wins auf sich, so­dass sich ei­ne spo­ra­di­sche se­xu­el­le Be­zie­hung er­gibt, die sich ein­zig nach den Be­dürf­nis­sen des Di­ri­gen­ten aus­rich­tet. Als Cla­ra schwan­ger wird, er­war­tet Ed­win selbst­ver­ständ­lich ei­ne Ab­trei­bung, ein Kind passt nicht in sei­ne Kar­rie­re­pla­nung und von Clara schon gar nicht.

Claras und Edwins Le­bens­läu­fe neh­men ei­nen ge­gen­sätz­li­chen Ver­lauf. Wäh­rend Clara durch die Wirt­schafts­kri­se von 1929 fast mit­tel­los wird, strebt Ed­win durch die – für Cla­ra völ­lig un­er­war­te­te und scho­ckie­ren­de – Hei­rat mit der Toch­ter ei­nes Fa­bri­kan­ten in hö­he­re ge­sell­schaft­li­che Sphä­ren. Qua­si als Re­flex hei­ra­tet Clara ei­nen Mann, der in der wei­te­ren Er­zäh­lung kei­ne Rol­le mehr spielt, ih­re Lie­be und Ver­eh­rung gilt nach wie vor aus­schließ­lich Ed­win, des­sen künst­le­ri­sche Kar­rie­re un­auf­halt­sam scheint. Ein Sohn – der Er­zäh­ler – wird ge­bo­ren und bleibt ihr fremd. Cla­ras psy­chi­sche Kon­sti­tu­tion wird zu­neh­mend fra­gi­ler, es fol­gen Ein­wei­sun­gen in psy­chia­tri­sche An­stal­ten, Elek­tro­schock­be­hand­lun­gen, re­sig­nier­tes Da­hin­le­ben, Ver­su­che sich in dem See zu er­trän­ken, an des­sen ge­gen­über lie­gen­dem Ufer Ed­win mit sei­ner schö­nen Gat­tin in einem Pa­lais sein er­folg­rei­ches und präch­ti­ges Le­ben ze­le­briert. Am En­de der töd­li­che Sprung aus dem Fens­ter des Al­ters­heims, in dem sie in­zwi­schen wohnt: "Ich kann nicht mehr!"

Jahre später kommt es zu einer zu­fäl­li­gen Be­geg­nung zwi­schen dem Er­zäh­ler und Ed­win wäh­rend ei­nes Mu­seums­be­suchs. Der Er­zäh­ler gibt sich als Sohn Claras zu er­ken­nen und muss fest­stel­len, dass sei­ne Mut­ter nichts als ei­ne Rand­no­tiz für den Di­ri­gen­ten ge­we­sen ist, er kann sich ih­rer kaum er­in­nern.

Der Roman beginnt und schließt mit der Bei­set­zung des ge­fei­er­ten Di­ri­gen­ten und er­folg­rei­chen Ge­schäfts­manns Ed­win, da­zwi­schen lie­gen die ver­schie­de­nen Ebe­nen der Zu­rück­wei­sung und Miss­ach­tung Cla­ras, die aber eine Vor­ge­schich­te ha­ben, die sich über meh­re­re Ge­ne­ra­tio­nen er­streckt. Ihr Ur­groß­va­ter war Af­ri­ka­ner, und es bleibt un­aus­ge­spro­chen, ob das der Grund für die ge­sell­schaft­li­che Iso­la­tion ih­rer Fa­mi­lie ge­we­sen ist. Dem in Ita­lien ver­blie­be­nen Teil der Fa­mi­lie ge­lingt eine ge­wis­se An­pas­sung, die sich bis zur Be­geis­te­rung für den sieg­rei­chen Fa­schis­mus stei­gert. Cla­ra, die sich bei Be­su­chen in dieser Um­ge­bung und mit diesen Men­schen wohl ge­fühlt hat, er­fährt aber auch hier wie­der eine Zu­rück­wei­sung, als sie zu­fäl­lig wäh­rend eines Be­suchs des Duce auf dem Gut, das die Fa­mi­lie jetzt be­treibt, auf­taucht und igno­riert wird. Warum? Ei­ner dunk­le­ren Haut­far­be we­gen? Es bleibt un­er­wähnt.

Urs Widmer spiegelt die Ver­än­de­run­gen in der Mu­sik und die wech­sel­vol­len Er­eig­nis­se in der Ge­schich­te in sei­ner Spra­che. Rhyth­mus, Tem­po und Ton­art wech­seln, holz­schnitt­ar­ti­ge Sät­ze ste­hen ne­ben fi­li­gra­nen, la­pi­da­re For­mu­lie­run­gen ne­ben ba­rock wir­ken­den Aus­schwei­fun­gen. Es ent­steht ei­ne Art Hy­per­rea­li­tät, die die Ein­dring­lich­keit des Tex­tes noch stei­gert. Im Feuil­le­ton strei­ten sich die Ex­per­ten, ob es sich um ei­nen miss­lun­ge­nen Text oder um ein Meis­ter­werk han­delt. Für mich war es Letz­te­res.


2. September 2024

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