Kassiber | |||||
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Urs Widmer Das Leben der Mutter als Erwachsene wird dominiert von ihrer unerwiderten Liebe zu Edwin, einem Dirigenten, dessen Karriere sie aktiv fördert, um schließlich nicht einmal mehr eine Randfigur in seinem Leben zu sein. Daran leidet und zerbricht sie. Von Kindheit an daran gewöhnt, nicht erwünscht und nutzlos zu sein, verschreibt sie sich mit Hingabe ihrer Aufgabe als Mädchen für alles, als sich ihr die Gelegenheit bietet, dem jungen, hochtalentierten Dirigenten Edwin und seinem Orchester, das vorerst noch aus Laien besteht, zur Hand zu gehen. Ihre Aufgaben werden mit der Zeit verantwortungsvoller und ziehen auch die Aufmerksamkeit Edwins auf sich, sodass sich eine sporadische sexuelle Beziehung ergibt, die sich einzig nach den Bedürfnissen des Dirigenten ausrichtet. Als Clara schwanger wird, erwartet Edwin selbstverständlich eine Abtreibung, ein Kind passt nicht in seine Karriereplanung und von Clara schon gar nicht. Claras und Edwins Lebensläufe nehmen einen gegensätzlichen Verlauf. Während Clara durch die Wirtschaftskrise von 1929 fast mittellos wird, strebt Edwin durch die – für Clara völlig unerwartete und schockierende – Heirat mit der Tochter eines Fabrikanten in höhere gesellschaftliche Sphären. Quasi als Reflex heiratet Clara einen Mann, der in der weiteren Erzählung keine Rolle mehr spielt, ihre Liebe und Verehrung gilt nach wie vor ausschließlich Edwin, dessen künstlerische Karriere unaufhaltsam scheint. Ein Sohn – der Erzähler – wird geboren und bleibt ihr fremd. Claras psychische Konstitution wird zunehmend fragiler, es folgen Einweisungen in psychiatrische Anstalten, Elektroschockbehandlungen, resigniertes Dahinleben, Versuche sich in dem See zu ertränken, an dessen gegenüber liegendem Ufer Edwin mit seiner schönen Gattin in einem Palais sein erfolgreiches und prächtiges Leben zelebriert. Am Ende der tödliche Sprung aus dem Fenster des Altersheims, in dem sie inzwischen wohnt: "Ich kann nicht mehr!" Jahre später kommt es zu einer zufälligen Begegnung zwischen dem Erzähler und Edwin während eines Museumsbesuchs. Der Erzähler gibt sich als Sohn Claras zu erkennen und muss feststellen, dass seine Mutter nichts als eine Randnotiz für den Dirigenten gewesen ist, er kann sich ihrer kaum erinnern. Der Roman beginnt und schließt mit der Beisetzung des gefeierten Dirigenten und erfolgreichen Geschäftsmanns Edwin, dazwischen liegen die verschiedenen Ebenen der Zurückweisung und Missachtung Claras, die aber eine Vorgeschichte haben, die sich über mehrere Generationen erstreckt. Ihr Urgroßvater war Afrikaner, und es bleibt unausgesprochen, ob das der Grund für die gesellschaftliche Isolation ihrer Familie gewesen ist. Dem in Italien verbliebenen Teil der Familie gelingt eine gewisse Anpassung, die sich bis zur Begeisterung für den siegreichen Faschismus steigert. Clara, die sich bei Besuchen in dieser Umgebung und mit diesen Menschen wohl gefühlt hat, erfährt aber auch hier wieder eine Zurückweisung, als sie zufällig während eines Besuchs des Duce auf dem Gut, das die Familie jetzt betreibt, auftaucht und ignoriert wird. Warum? Einer dunkleren Hautfarbe wegen? Es bleibt unerwähnt. Urs Widmer spiegelt die Veränderungen in der Musik und die wechselvollen Ereignisse in der Geschichte in seiner Sprache. Rhythmus, Tempo und Tonart wechseln, holzschnittartige Sätze stehen neben filigranen, lapidare Formulierungen neben barock wirkenden Ausschweifungen. Es entsteht eine Art Hyperrealität, die die Eindringlichkeit des Textes noch steigert. Im Feuilleton streiten sich die Experten, ob es sich um einen misslungenen Text oder um ein Meisterwerk handelt. Für mich war es Letzteres. 2. September 2024 |
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