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Autoren Glossen Lyrik

Salim Alafenisch Das Kamel mit dem Nasenring Salim Alafenisch
Das Kamel mit dem Na­sen­ring. Er­zäh­lun­gen.
Unionsverlag, Zürich 1990, 180 Sei­ten, ISBN 3-293-00162-9

Während ein kal­ter, schar­fer Wind über die Ne­gev-Wüs­te fegt, sit­zen die männ­li­chen Mit­glie­der der Tya­ha im Zelt ih­res Scheichs und wär­men sich an der mit Ka­mel­äp­feln be­trie­be­nen Feu­er­stel­le. Hus­sein, Er­zäh­ler und Stam­mes­äl­tes­ter, un­ter­hält sie mit Ge­schich­ten aus sei­nem Le­ben und Er­eig­nis­sen, die den Be­du­i­nen seit der Er­bau­ung des Suez­ka­nals wi­der­fah­ren sind.

Zuvor konnten sie ihre Ka­me­le und Zie­gen wei­den las­sen, wo im­mer es die Wet­ter­be­din­gun­gen güns­tig er­schei­nen lie­ßen. Doch der Ka­nal zwang sie, sich für eine Sei­te der Wüs­te zu ent­schei­den. Hin­zu ka­men Be­stre­bun­gen des os­ma­ni­schen Sul­tans, die Be­du­i­nen in fes­ten Ort­schaf­ten an­zu­sie­deln, um das Ein­trei­ben von Steu­ern und an­de­ren Ab­ga­ben zu er­leich­tern.

Mit dem Zer­fall des Os­ma­ni­schen Reichs, der Ero­be­rung Pa­läs­ti­nas durch die Eng­län­der und der Staats­grün­dung Is­ra­els se­hen sich die Be­du­i­nen völ­lig neu­en Be­din­gun­gen ge­gen­über. Ihre Frei­zü­gig­keit ist ein­ge­schränkt, staat­li­che An­for­de­run­gen ste­hen ih­rer Le­bens­wei­se dia­me­tral ent­ge­gen.

Davon berichtet Hus­sein in sei­nen Ge­schich­ten und da­von, wie sich die Be­du­i­nen mit List und Ver­hand­lungs­ge­schick im­mer wie­der den Über­grif­fen staat­li­cher Macht ent­zie­hen konn­ten.

Die letzte Ge­schich­te in die­sem Band, sie ist zu­gleich auch die na­men­ge­ben­de, hat die Ab­sur­di­tät von Gren­zen zum The­ma. Da sich we­der Zie­gen noch Ka­me­le da­rum küm­mern, in wel­chen Län­dern sie ihre Nah­rung fin­den, müs­sen die Be­du­i­nen eine Schu­le für die­se Tie­re ein­rich­ten, in der ih­nen die Un­an­tast­bar­keit staat­li­cher Gren­zen bei­ge­bracht wer­den soll.

Eines Tages döst Ab­dal­lah in der brü­ten­den Hit­ze der Ne­gev-Wüs­te, als sein Ka­mel, das mit dem Na­sen­ring – aber das ist eine an­de­re Ge­schich­te –, un­be­merkt die Gren­ze nach Jor­da­nien über­schrei­tet, um dort sei­nen Hun­ger mit Ar­ti­scho­cken zu stil­len. Ab­dal­lah wird bei dem Ver­such, sein Ka­mel wie­der zu­rück­zu­füh­ren, von jor­da­ni­schen Sol­da­ten fest­ge­nom­men und we­gen Grenz­ver­let­zung in­haf­tiert. Im an­schlie­ßen­den Pro­zess be­teu­ert Ab­dal­lah sei­ne Un­schuld, schil­dert die Um­stän­de sei­nes Grenz­über­tritts, und der Rich­ter ge­stat­tet, das Ka­mel als Zeu­gen vor dem Ge­richt zu be­fra­gen. Da aber nur Ab­dal­lah der Spra­che sei­nes Ka­mels mäch­tig ist, wird des­sen Aus­sa­ge das Ur­teil ge­gen ihn nicht ver­hin­dern: ein Jahr Ge­fäng­nis.

Abdallah wird vom jor­da­ni­schen Ge­heim­dienst kon­tak­tiert, der ihn über die mi­li­tä­ri­sche Prä­senz Is­ra­els auf der an­de­ren Sei­te der Gren­ze aus­fra­gen will. Doch sie set­zen ihn er­folg­los un­ter Druck, Ab­dal­lah weiß nichts und will auch gar nichts wis­sen.

Nach der Ent­las­sung aus der Haft wird Ab­dal­lah von is­ra­e­li­schen Sol­da­ten in Emp­fang ge­nom­men. Sie hal­ten ihn für ei­nen jor­da­ni­schen Spi­on und un­ter­zie­hen ihn ent­spre­chen­den Ver­hö­ren. Auch hier wird er zu ein­ein­halb Jah­ren Ge­fäng­nis we­gen il­le­ga­len Grenz­über­tritts ver­ur­teilt. Doch die­ses Mal ist er nicht iso­liert, denn vie­le Mit­häft­lin­ge sind An­ge­hö­ri­ge sei­nes Stam­mes, die eben­falls un­be­ab­sich­tigt ge­gen di­ver­se Vor­schrif­ten ver­sto­ßen ha­ben. Ab­dal­lah freun­det sich mit ei­nem der Wär­ter an und lädt ihn nach sei­ner Ent­las­sung zu sei­ner Hoch­zeit ein. Ge­mein­sam be­stei­gen sie das Ka­mel mit dem Na­sen­ring und rei­ten dem Zelt­la­ger ent­ge­gen, in dem sei­ne Frei­las­sung und die Hoch­zeit mit ei­ner ta­ge­lan­gen Fei­er be­gan­gen wer­den. Und das Ka­mel kann sich end­lich wie­der an ei­ner gro­ßen Por­tion Ar­ti­scho­cken güt­lich tun.

Salim Alafenisch wur­de 1948, ein hal­bes Jahr nach der Grün­dung des Staa­tes Is­ra­el, als Sohn ei­nes Be­du­i­nen­scheichs in der Ne­gev-Wüs­te ge­bo­ren. Nach dem Gym­na­sium in Na­za­reth stu­dier­te er Eth­no­lo­gie, So­zio­lo­gie und Psy­cho­lo­gie an der Uni­ver­si­tät Hei­del­berg. Sein The­ma ist die Er­zähl­tra­di­tion der Be­du­i­nen und der Zu­sam­men­prall ih­rer no­ma­di­schen Tra­di­tion mit den geo­po­li­ti­schen Ge­ge­ben­hei­ten. Er schreibt sei­ne Bü­cher auf Deutsch.


29. Januar 2025

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