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Während ein kalter, scharfer Wind über die Negev-Wüste fegt, sitzen die männlichen Mitglieder der Tyaha im Zelt ihres Scheichs und wärmen sich an der mit Kameläpfeln betriebenen Feuerstelle. Hussein, Erzähler und Stammesältester, unterhält sie mit Geschichten aus seinem Leben und Ereignissen, die den Beduinen seit der Erbauung des Suezkanals widerfahren sind. Zuvor konnten sie ihre Kamele und Ziegen weiden lassen, wo immer es die Wetterbedingungen günstig erscheinen ließen. Doch der Kanal zwang sie, sich für eine Seite der Wüste zu entscheiden. Hinzu kamen Bestrebungen des osmanischen Sultans, die Beduinen in festen Ortschaften anzusiedeln, um das Eintreiben von Steuern und anderen Abgaben zu erleichtern. Mit dem Zerfall des Osmanischen Reichs, der Eroberung Palästinas durch die Engländer und der Staatsgründung Israels sehen sich die Beduinen völlig neuen Bedingungen gegenüber. Ihre Freizügigkeit ist eingeschränkt, staatliche Anforderungen stehen ihrer Lebensweise diametral entgegen. Davon berichtet Hussein in seinen Geschichten und davon, wie sich die Beduinen mit List und Verhandlungsgeschick immer wieder den Übergriffen staatlicher Macht entziehen konnten. Die letzte Geschichte in diesem Band, sie ist zugleich auch die namengebende, hat die Absurdität von Grenzen zum Thema. Da sich weder Ziegen noch Kamele darum kümmern, in welchen Ländern sie ihre Nahrung finden, müssen die Beduinen eine Schule für diese Tiere einrichten, in der ihnen die Unantastbarkeit staatlicher Grenzen beigebracht werden soll. Eines Tages döst Abdallah in der brütenden Hitze der Negev-Wüste, als sein Kamel, das mit dem Nasenring – aber das ist eine andere Geschichte –, unbemerkt die Grenze nach Jordanien überschreitet, um dort seinen Hunger mit Artischocken zu stillen. Abdallah wird bei dem Versuch, sein Kamel wieder zurückzuführen, von jordanischen Soldaten festgenommen und wegen Grenzverletzung inhaftiert. Im anschließenden Prozess beteuert Abdallah seine Unschuld, schildert die Umstände seines Grenzübertritts, und der Richter gestattet, das Kamel als Zeugen vor dem Gericht zu befragen. Da aber nur Abdallah der Sprache seines Kamels mächtig ist, wird dessen Aussage das Urteil gegen ihn nicht verhindern: ein Jahr Gefängnis. Abdallah wird vom jordanischen Geheimdienst kontaktiert, der ihn über die militärische Präsenz Israels auf der anderen Seite der Grenze ausfragen will. Doch sie setzen ihn erfolglos unter Druck, Abdallah weiß nichts und will auch gar nichts wissen. Nach der Entlassung aus der Haft wird Abdallah von israelischen Soldaten in Empfang genommen. Sie halten ihn für einen jordanischen Spion und unterziehen ihn entsprechenden Verhören. Auch hier wird er zu eineinhalb Jahren Gefängnis wegen illegalen Grenzübertritts verurteilt. Doch dieses Mal ist er nicht isoliert, denn viele Mithäftlinge sind Angehörige seines Stammes, die ebenfalls unbeabsichtigt gegen diverse Vorschriften verstoßen haben. Abdallah freundet sich mit einem der Wärter an und lädt ihn nach seiner Entlassung zu seiner Hochzeit ein. Gemeinsam besteigen sie das Kamel mit dem Nasenring und reiten dem Zeltlager entgegen, in dem seine Freilassung und die Hochzeit mit einer tagelangen Feier begangen werden. Und das Kamel kann sich endlich wieder an einer großen Portion Artischocken gütlich tun. Salim Alafenisch wurde 1948, ein halbes Jahr nach der Gründung des Staates Israel, als Sohn eines Beduinenscheichs in der Negev-Wüste geboren. Nach dem Gymnasium in Nazareth studierte er Ethnologie, Soziologie und Psychologie an der Universität Heidelberg. Sein Thema ist die Erzähltradition der Beduinen und der Zusammenprall ihrer nomadischen Tradition mit den geopolitischen Gegebenheiten. Er schreibt seine Bücher auf Deutsch. 29. Januar 2025 |
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