Kassiber leer
Autoren Glossen Lyrik

Claude Arnaud: Chamfort Claude Arnaud
Chamfort. Die Frau­en, der Adel und die Re­vo­lution.
Eine Biographie, mit einem An­hang von siebzig bisher un­ver­öf­fent­lich­ten oder nie nach­ge­druckten Ma­xi­men, Anekdoten, Aus­sprüchen und Dia­lo­gen.
Aus dem Fran­zö­si­schen von Ulrich Kunz­mann.
Matthes & Seitz Berlin 2007, 524 Seiten
ISBN 978-3-88221-875-6

Sébastien Roch Nicolas, der sich später Nicolas Chamfort nen­nen sollte, wird 1740 als au­ßer­ehe­liches Kind einer Ad­li­gen und ei­nes Dom­herren in Cler­mont-Ferrand geboren. Sein Name ist der ei­nes kurz zu­vor gestorbenen Säuglings, des­sen El­tern ihn aufziehen wer­den. Der Ziehvater ist Krä­mer, die neue Mutter Dienst­magd. Den­noch erhält er eine gu­te Aus­bil­dung, die seine leib­li­che Mutter fi­nan­ziert. Der "bes­te Schü­ler Frank­reichs" (S. 134) verlässt als Abbé die Uni­ver­si­tät und widmet sich der Schrift­stel­le­rei. Schnell wird er ein geist­rei­cher Gast in den Sa­lons der Haupt­stadt mit zahl­lo­sen Amou­ren. Er ver­kehrt in Adels­krei­sen, sei­ne Theater­stü­cke wer­den ge­fei­ert. 1778 tritt er der Frei­maurer­loge Les Neuf Soeurs bei, 1781 wird er zum Mitglied der Aca­démie fran­caise er­nannt. Aber er ist um­strit­ten. Und er infiziert sich mit der Syphilis. Die Ent­wick­lung zum Mi­san­thro­pen nimmt ihren An­fang.

Neider bezichtigen ihn des Pla­gi­ats (eine damals weit ver­brei­te­te Arbeitsweise), er stellt das Schrei­ben bis auf Wei­teres ein [1]. Seine Ambi­valenz ge­gen­über dem Adel, dem er sich zu­ge­hö­rig aber nicht akzep­tiert fühlt, wächst. Kon­tak­te zu Mi­ra­beau und Talleyrand ent­ste­hen, in der Gesellschaft wach­sen Un­zu­frie­den­heit und re­vo­lu­tio­nä­re Be­stre­bun­gen, an de­nen sich Chamfort mit im­mer stär­ke­rem Engagement be­tei­ligt. Er schreibt und ver­öf­fent­licht Texte zur Situation, für sich selbst um­fang­rei­che Re­fle­xi­o­nen, auch un­po­li­tischer Art, für die er heu­te noch/­wie­der ge­schätzt wird. Der Sturm auf die Bastille am 14. Ju­li 1789 hebt die Er­eig­nis­se auf ein neues Ni­veau [2]. Fort­an wird Cham­fort immer mal wie­der die Richtung wech­seln, sich mal dieser mal jener Frak­ti­on näher füh­len, immer aber ein Anhänger der Re­vo­lu­tion blei­ben.

Er wird zum Leiter der Na­tio­nal­bibliothek er­nannt. Ein wei­te­rer Nei­der denunziert ihn als Kon­ter­re­vo­lu­tionär, er wird für kur­ze Zeit in­haf­tiert. In­zwi­schen ist Charlotte Corday, die am 13. Juli 1793 den Ja­ko­bi­ner Jean Paul Marat in seiner Ba­de­wan­ne er­sto­chen hatte, zu seinem Idol ge­wor­den (S. 380). Die De­nun­zi­a­tionen ge­gen ihn gehen wei­ter, und als er von einer er­neu­ten Fest­nah­me er­fährt, will er sich das Le­ben neh­men: "Er holt eine Pis­to­le aus einem Ver­steck, hält sie sich an die Schlä­fe und schießt. Doch der Rückstoß lenkt die Kugel zum rech­ten Au­ge ab. »Erstaunt, daß er lebt«, nimmt er ein Ra­sier­mes­ser mit El­fen­bein­griff und schnei­det sich in die Kehle. Die Klin­ge gleitet ab. Er ver­sucht es wieder, indem er zu­drückt. Er nimmt ein zweites Rasier­mes­ser und schneidet sich in Brust, Schenkel und Waden, und be­sonders schlimm rich­tet er die In­nen­sei­ten zu." (S. 394) Doch er überlebt. Ein knap­pes hal­bes Jahr spä­ter (am 13. April 1794) stirbt er an den Fol­gen der schweren Ver­let­zun­gen [3].

Arnaud schreibt in seinem Vor­wort über Cham­fort: "Ein mo­ra­lisch nicht zu be­wer­ten­der Fall, tie­fen­psy­cho­lo­gisch fas­zi­nie­rend." (S. 10) Fas­zi­nierend in der Tat, aber in seiner Viel­schich­tig­keit ohne wirk­li­che Er­klä­rung. Arnaud ist bemüht, den vie­len Fa­cet­ten der Person Cham­forts ebenso viel Platz ein­zu­räu­men, wie den Zeit­ge­nos­sen und den ge­sell­schaft­lichen Ver­hält­nis­sen, was es den Le­sern/­Leserinnen immer mal wie­der an Überblick feh­len lässt.

Ein eigenes Kapitel bildet die Aus­ei­nan­der­set­zung Nietz­sches mit dem Werk Cham­forts. Im Anhang wird die ver­wor­re­ne Edi­tions­ge­schich­te der Werke Chamforts er­läu­tert, die durch den Dieb­stahl seiner Ma­nus­krip­te bis heute un­voll­stän­dig ge­blie­ben sind. Ein um­fang­rei­ches Quel­len­ver­zeich­nis (aus­schließ­lich fran­zö­sisch­spra­chi­ger Werke) so­wie ein Per­so­nen­re­gis­ter be­schlie­ßen den Band.

----------------------------

1. "Sein »Werk« wurde bisher von zwei Themen inspiriert. Sei­ne Komödien sollten Un­recht be­kämp­fen und dabei leicht faß­lich sein, seine Elo­gen und seine Tragödie soll­ten Tu­gend, Eh­re und Bru­der­lie­be ver­herr­lichen." S. 190

2. "In der Festung befanden sich bekanntlich nur sieben Häft­lin­ge – darunter ein Wahn­sin­niger und vier Fäl­scher. Doch der Fall der Bas­til­le fin­det Wider­hall in ganz Europa und so­gar da­rü­ber hinaus." S. 267

3. "Nacheinander hat er 1765 den Erotomanen, 1780 den Schrift­stel­ler und 1793 den Ideo­lo­gen ge­tötet ..." S. 401

----------------------------

11. Mai 2021

Biographisches

Geschichte

Gelesen : Weiteres : Impressum