Kassiber leer
Autoren Glossen Lyrik

Jacques Attali: Wege durch das Labyrinth Jacques Attali
Wege durch das La­by­rinth.
Europäische Ver­lags­anstalt 1999, 193 Sei­ten
ISBN 3-434-50424-9

Darstellungen von La­by­rin­then tau­chen in der Mensch­heits­ge­schich­te schon sehr früh auf und etwa gleich­zei­tig an den ver­schie­dens­ten Orten des Pla­ne­ten. Dass aber, wie Atta­li be­hauptet, schon vor 6 Mil­lionen Jahren das erste be­kann­te La­by­rinth in einer Höh­le der Wicklow Mountains in Ir­land ge­zeich­net wurde [1], scheint auf eine Nach­läs­sig­keit des Lek­to­rats – falls es ein sol­ches überhaupt ge­ge­ben hat – zu­rück zu führen zu sein, wie so manches andere auch in die­sem Buch [2]. Attali be­schreibt eine Vielzahl von la­by­rin­thi­schen Formen und be­nennt Beispiele aus der An­thro­po­lo­gie und der Kultur­ge­schich­te. Ety­mo­lo­gisch nach wie vor un­ge­klärt [3], ist der zen­tra­le Mythos natür­lich der des Mino­taurus, der sich in Varia­tionen durch die Jahr­hun­derte zieht [4].

Im Unterschied zum Labyrinth de­finiert Attali den Irr­gar­ten, "in dem mehrere Wege auf ein und das­sel­be Ziel zu­lau­fen", wäh­rend im Labyrinth "nur ein ein­ziger Weg zu ei­nem Aus­gang oder Zen­trum führt. In einem Irrgarten im ei­gent­lichen Sin­ne gibt es einen Weg, der kürzer ist als die an­de­ren. Nicht so in ei­nem La­by­rinth." [5] Al­ler­dings wird diese Unter­scheidung im wei­te­ren Text immer wieder sehr nachlässig gehandhabt.

In der frühen Christenheit wur­den nicht selten La­by­rin­the in den Böden der Kirchen dar­ge­stellt [6], die man über­schrei­ten oder durchlaufen muss­te auf dem Weg ins In­ne­re des Got­tes­hau­ses [7]. La­by­rin­the sind religions- und kul­tur­über­grei­fend, ei­ne Ma­te­ria­li­sierung des kollektiven Un­be­wuss­ten, und er­zäh­len "auf die eine oder an­de­re Wei­se diese vierfache Ge­schich­te: von ei­ner Reise, ei­ner Prü­fung, einer Initiation und ei­ner Wie­der­auf­erste­hung." [8]

Mit zunehmender Entwicklung von Tech­nologie und Wis­sen­schaft verliert das Labyrinth an Be­deu­tung, Linearität und Trans­pa­renz ersetzen und ent­mystifizieren es [9]. Erst in jüngs­ter Zeit er­lebt es eine Art Renaissance, und Attali sieht im Wie­der­erstarken des No­ma­den­tums [10] die Grund­lage für eine Zukunft des La­by­rinths als Er­klä­rungs- und Le­bens­mo­dell der Mensch­heit.

Mein Eindruck von diesem Buch ist ein zwie­späl­ti­ger. Ei­ner Fül­le von interessanten Ver­wei­sen auf labyrinthische Dar­stel­lun­gen in der kul­tu­rel­len Ent­wick­lung der Mensch­heit steht eine ge­ne­ra­li­sie­ren­de In­ter­pre­ta­tion des Prinzips La­by­rinth ge­gen­über [11]: Ab einer gewissen Komplexität ist ihm alles La­by­rinth. Im Ge­gen­satz dazu steht Li­neari­tät als aus­schließlich ziel­orien­tiert und im Grun­de banal.

Jacques Attali ist von Hause aus Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler und hat sich als Berater des fran­zö­si­schen Prä­si­den­ten Mit­te­rand einen Namen ge­macht. Er veröffentlicht je­des Jahr ein Buch über die unter­schied­lichs­ten The­men.

----------------------------

1. S. 33

2. So weist der Höhlenforscher Franz Lindenmayr auf sei­ner Web­site auf einen Über­setzungs­feh­ler hin, der sich auf zwei La­by­rinthe bei Boisney in Cornwall be­zieht.

3. "Das Wort Labyrinth selbst ist auch heute noch ein ety­mo­lo­gi­sches Rätsel. Herodot, der es spä­ter ge­braucht, behauptete, sei­nen Ur­sprung nicht zu ken­nen. Die Sprach­wissen­schaftler haben lan­ge die The­se ver­tei­digt, es stam­me von labrys, was im Lydischen 'Dop­pel­axt' bedeutet, das Emblem der kretischen Kö­ni­ge, das den zu- und ab­neh­men­den Mond dar­stell­te und da­mit die Schöpfer- und Zer­stö­rungs­macht des Gott­kö­nigs sym­bo­li­sier­te. Anderen Quellen zu­fol­ge ist es weder grie­chischen noch kretischen Ur­sprungs, son­dern ent­stammt einer Ver­bin­dung aus dem ly­di­schen Wort für 'Axt' und dem lykischen Wort für 'Höh­le'. Noch einer an­de­ren Er­klä­rung zufolge ist es grie­chi­schen Ur­sprungs und bedeutet 'Spiel des Fischs, der in der Reuse ge­fan­gen ist'." S. 16

4. "Minos von Dädalus (ließ) ein rie­si­ges Labyrinth bau­en nach dem Mo­dell des Grabes von Men­des, ei­nem ägyptischen König, der sich im Schutz eines Ge­wirrs von Gängen hatte begraben lassen. Darin sperr­te er den Minotaurus ein." S. 13

5. S. 25

6. "Das älteste Labyrinth, das in den Boden einer Kir­che ge­meißelt wur­de, fand man in Orléansville, in Al­ge­rien, in der Basilika des Re­pa­ra­tus, die an­geb­lich aus dem Jahre 328 stammt." S. 43

7. "Wie in allen vorherigen re­ligiösen Gebäuden dient das La­byrinth in den Kirchen lange Zeit im we­sent­li­chen nur als ma­gi­sches Zei­chen, das die bösen Geis­ter in die Falle locken und sie daran hindern soll, Scha­den an­zu­rich­ten. Als es so plaziert wird, daß der Gläu­bi­ge es not­ge­drun­gen durch­queren muß, wird es et­was später – was nun eher für das Chris­tentum kenn­zeich­nend ist – zum Weg des Heils, der zum Altar führt, wo das Simulakrum der Auf­er­ste­hung statt­fin­det." S. 61

8. S. 53

9. "Seit der Renaissance ver­schwin­den die La­by­rin­the; die Ver­nunft siegt über den Glauben, die Wis­sen­schaft über die List, die Ma­thematik über das prak­ti­sche Wissen, das wirkliche Leben über das ewige Le­ben, die Transparenz über die Dunkelheit, die gerade Li­nie über das Ornament." S. 67

10. das für Attali den Mono­theismus "erfunden" hat, wo­bei er ver­mutlich die Flucht der Juden aus der ägyp­tischen Ge­fangen­schaft meint.

11. "Lernen, spielen, träumen, rei­sen, arbeiten, kon­su­mie­ren, tan­zen, sich vergnügen, Neues ent­decken, sich Gutes tun sind, auf die eine oder andere Weise, la­by­rin­thi­sche Beschäftigungen. Ja so­gar essen und lie­ben. Die Gas­tro­no­mie und die Erotik können eben­falls, wie wir sehen werden, den Anfang einer Ini­tia­tions­reise in Labyrinthe von extremer Finesse dar­stel­len." S. 81f

----------------------------

18. Februar 2021

Kunst

Gelesen : Weiteres : Impressum