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Elias Canetti: Masse und Macht Elias Canetti
Masse und Macht
Fischer Taschenbuch 2003, 584 Seiten
ISBN 3-596-26544-4

Canetti untersucht in Mas­se und Macht die Struk­tur und das We­sen von Massen und Meu­ten, von Macht- und Herr­schafts­ge­fü­gen. Da­bei geht er mit stren­ger Syste­ma­ti­sie­rung vor, die an man­chen Stel­len nicht ganz ein­fach nach­zu­voll­zie­hen ist. Massen und Meu­ten un­ter­schei­den sich nicht nur nach der An­zahl ih­rer Mit­glie­der, sie dif­fe­ren­zie­ren sich auch nach Dynamik, Mo­ti­va­tion und den Zie­len ih­res Han­delns. Die Meu­te besteht aus In­di­vi­du­en, in der Mas­se sind alle gleich. Ca­net­ti de­fi­niert Mas­sen nach vier we­sent­li­chen Ei­gen­schaf­ten: Wachs­tum, Dich­te, Gleich­heit, Ge­rich­tet­heit, und führt zur Er­läu­te­rung Bei­spie­le aus der Eth­no­lo­gie und Ge­schich­te an, die geo­gra­phisch und zeit­lich wei­te Räu­me um­fas­sen. Bei den Meu­ten unter­schei­det er in äußere und in­ne­re, laute und lei­se Meuten. Vor al­lem zeich­nen sich Meu­ten durch die Be­stimmt­heit auf ih­ren Gegen­stand aus: Jagd, Krieg, Ver­meh­rung und Klage. So­wohl bei sei­ner Be­trach­tung der Massen als auch bei der der Meu­ten dif­fe­ren­ziert er im­mer wei­ter in Grup­pen und Un­ter­grup­pen. Und im­mer wie­der zahl­rei­che und zum Teil um­fang­rei­che Ver­wei­se auf My­then, Re­li­gio­nen und Ge­schich­te.

Macht und Herrschaft wer­den vor allem durch die ver­schie­de­nen For­men von Befehlen auf­recht er­hal­ten, die alle auf die ur­sprüng­lichs­te al­ler Dro­hun­gen zu­rück­zu­füh­ren sind: die Dro­hung mit dem Tod. Wie Mas­sen und Meuten mit den un­ter­schied­li­chen Aus­for­mun­gen von Macht kor­res­pon­die­ren kön­nen, wird in der zwei­ten Hälf­te des Bu­ches aus­führ­lich be­han­delt.

Der Tod nimmt eine be­son­de­re, ei­ne heraus­ra­gen­de Stel­lung bei Ca­net­tis Beispielen und Ar­gu­men­ten ein. Die ri­gi­de Sys­te­ma­ti­sie­rung, die Ca­netti vor al­lem in den Ka­pi­teln über Mas­sen und Meu­ten an­wen­det, fin­de ich nicht un­prob­le­ma­tisch. Für alle an­ge­führ­ten Beispiele fal­len einem spon­tan Ge­gen­bei­spie­le und Aus­nah­men ein, die nichts am We­sen der De­fi­ni­tio­nen än­dern, aber immer wie­der wie Sand im Ge­trie­be wir­ken. Auch die fehlenden Be­zü­ge zu Le Bon und Freud ir­ri­tie­ren ein we­nig, Ca­net­tis An­satz ist ein völ­lig anderer. Aus­ge­hend von ei­ge­nen Er­leb­nis­sen mit Massen, die ihn nach­hal­tig be­ein­druckt ha­ben [1], und die ihn über Jahr­zehn­te ha­ben Ma­te­rial sam­meln las­sen, konn­te er schließ­lich sein Haupt­werk voll­en­den, das sich dem The­ma mit anthro­po­lo­gi­schem, psy­cho­lo­gi­schem und his­to­ri­schem Blick wid­met. Ein ei­gen­wil­li­ges Werk.

Über Hetzmassen: "Es ist die Er­re­gung von Blin­den, die am blin­des­ten sind, wenn sie plötz­lich zu se­hen glau­ben." S. 55

"Revolutionen sind die ei­gent­li­chen Zeiten der Um­keh­rung. Die so lan­ge wehrlos waren, ha­ben plötz­lich Zähne. Ih­re Zahl muß wett­ma­chen, was ih­nen an bös­ar­ti­ger Erfahrung ab­geht." S. 65

"An der Kirche ge­mes­sen, er­schei­nen alle Macht­ha­ber wie trau­ri­ge Stüm­per." S. 183

"Es sollen also die Na­tio­nen hier so an­ge­se­hen wer­den, als wä­ren sie Religionen. Sie ha­ben die Ten­denz, von Zeit zu Zeit wirk­lich in die­sen Zu­stand zu ge­ra­ten." S. 198

"Was zuerst einmal und über­all auf­fällt, ist die Furcht vor den To­ten. Sie sind un­zu­frieden und voll von Neid auf die An­ge­hö­ri­gen, die sie zu­rück­ge­las­sen ha­ben." S. 309

"Die Befehlsempfänger, de­nen am gründlichsten mit­ge­spielt wird, sind Kin­der. Daß sie unter der Last von Be­feh­len nicht zu­sam­men­bre­chen, daß sie das Trei­ben ihrer Er­zie­her über­le­ben, er­scheint wie ein Wun­der." S. 360

"Der 'freie' Mensch ist nur der, der es ver­stan­den hat, Be­feh­len aus­zu­wei­chen, und nicht je­ner, der sich erst nach­träglich von ihnen be­freit". S. 361

"Der Tod als Drohung ist die Mün­ze der Macht. Es ist leicht, hier Münze auf Münze zu legen und enor­me Ka­pi­talien an­zu­sam­meln. Wer der Macht bei­kom­men will, der muß den Be­fehl oh­ne Scheu ins Auge fas­sen und die Mittel fin­den, ihn sei­nes Sta­chels zu be­rau­ben." S. 559

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1. An erster Stelle ist hier der Brand des Justiz­pa­lastes in Wien am 15. Juli 1927 zu nennen. Die Vor­ge­schich­te: Am 30. Januar 1927 wur­de eine Ver­samm­lung so­zial­de­mo­kra­ti­scher Arbeiter von na­tio­nal ge­sinn­ten und be­waff­ne­ten Front­kämpfern an­ge­griffen, zwei Men­schen star­ben. Am 14. Juli wur­den die Ange­klagten von ei­nem Ge­richt in Wien frei­ge­spro­chen. Als Fol­ge da­von for­mier­te sich am 15. Ju­li eine Mas­sen­de­mon­stra­tion, der auch Ca­net­ti an­ge­hör­te. Der Jus­tiz­pa­last wurde ge­stürmt, ein Feuer brach aus. Der Po­li­zei­prä­si­dent ließ das Feu­er auf die De­mons­tran­ten er­öff­nen, 89 von ih­nen wur­den er­schos­sen, mehr als 1000 ver­letzt. Die Er­eig­nis­se ha­ben ih­ren Nie­der­schlag in meh­re­ren sei­ner Werke ge­fun­den.

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11. September 2020

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