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Canetti untersucht in Masse und Macht die Struktur und das Wesen von Massen und Meuten, von Macht- und Herrschaftsgefügen. Dabei geht er mit strenger Systematisierung vor, die an manchen Stellen nicht ganz einfach nachzuvollziehen ist. Massen und Meuten unterscheiden sich nicht nur nach der Anzahl ihrer Mitglieder, sie differenzieren sich auch nach Dynamik, Motivation und den Zielen ihres Handelns. Die Meute besteht aus Individuen, in der Masse sind alle gleich. Canetti definiert Massen nach vier wesentlichen Eigenschaften: Wachstum, Dichte, Gleichheit, Gerichtetheit, und führt zur Erläuterung Beispiele aus der Ethnologie und Geschichte an, die geographisch und zeitlich weite Räume umfassen. Bei den Meuten unterscheidet er in äußere und innere, laute und leise Meuten. Vor allem zeichnen sich Meuten durch die Bestimmtheit auf ihren Gegenstand aus: Jagd, Krieg, Vermehrung und Klage. Sowohl bei seiner Betrachtung der Massen als auch bei der der Meuten differenziert er immer weiter in Gruppen und Untergruppen. Und immer wieder zahlreiche und zum Teil umfangreiche Verweise auf Mythen, Religionen und Geschichte. Macht und Herrschaft werden vor allem durch die verschiedenen Formen von Befehlen aufrecht erhalten, die alle auf die ursprünglichste aller Drohungen zurückzuführen sind: die Drohung mit dem Tod. Wie Massen und Meuten mit den unterschiedlichen Ausformungen von Macht korrespondieren können, wird in der zweiten Hälfte des Buches ausführlich behandelt. Der Tod nimmt eine besondere, eine herausragende Stellung bei Canettis Beispielen und Argumenten ein. Die rigide Systematisierung, die Canetti vor allem in den Kapiteln über Massen und Meuten anwendet, finde ich nicht unproblematisch. Für alle angeführten Beispiele fallen einem spontan Gegenbeispiele und Ausnahmen ein, die nichts am Wesen der Definitionen ändern, aber immer wieder wie Sand im Getriebe wirken. Auch die fehlenden Bezüge zu Le Bon und Freud irritieren ein wenig, Canettis Ansatz ist ein völlig anderer. Ausgehend von eigenen Erlebnissen mit Massen, die ihn nachhaltig beeindruckt haben [1], und die ihn über Jahrzehnte haben Material sammeln lassen, konnte er schließlich sein Hauptwerk vollenden, das sich dem Thema mit anthropologischem, psychologischem und historischem Blick widmet. Ein eigenwilliges Werk. Über Hetzmassen: "Es ist die Erregung von Blinden, die am blindesten sind, wenn sie plötzlich zu sehen glauben." S. 55 ---------------------------- 1. An erster Stelle ist hier der Brand des Justizpalastes in Wien am 15. Juli 1927 zu nennen. Die Vorgeschichte: Am 30. Januar 1927 wurde eine Versammlung sozialdemokratischer Arbeiter von national gesinnten und bewaffneten Frontkämpfern angegriffen, zwei Menschen starben. Am 14. Juli wurden die Angeklagten von einem Gericht in Wien freigesprochen. Als Folge davon formierte sich am 15. Juli eine Massendemonstration, der auch Canetti angehörte. Der Justizpalast wurde gestürmt, ein Feuer brach aus. Der Polizeipräsident ließ das Feuer auf die Demonstranten eröffnen, 89 von ihnen wurden erschossen, mehr als 1000 verletzt. Die Ereignisse haben ihren Niederschlag in mehreren seiner Werke gefunden. ----------------------------
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