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Carola Stern: Isadora Duncan und Sergej Jessenin Carola Stern
Isadora Duncan und Ser­gej Jes­se­nin.
Der Dich­ter und die Tän­ze­rin.
Rowohlt Berlin 1996
172 Seiten, zahl­rei­che Ab­bil­dun­gen.

Als sich Isadora Dun­can und Ser­gej Jes­se­nin in einer Ok­to­ber­nacht des Jah­res 1921 auf ei­ner Par­ty zum ers­ten Mal be­geg­ne­ten, war das der Be­ginn ei­ner dra­ma­ti­schen Be­zie­hung, de­ren Pro­ta­go­nis­ten auf tra­gi­sche Wei­se ihr En­de fan­den. Dun­can war zu die­sem Zeit­punkt ein Welt­star, wenn auch ein ver­blas­sen­der, Jes­se­nin galt als der größte le­ben­de rus­si­sche Dich­ter (ne­ben Ma­ja­kows­ki). Dun­can hat­te die Tanz­kunst re­vo­lu­tio­niert und woll­te aus Sym­pa­thie zur Rus­si­schen Re­vo­lu­tion ei­ne Tanz­schu­le in Mos­kau grün­den, in der Kin­der aus ar­men Fa­mi­lien auf künst­le­ri­sche Wei­se die neu­en ge­sell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se un­ter­stützen soll­ten. Jes­se­nin kam aus der tiefs­ten Pro­vinz, hat­te sich mit Na­tur­ge­dich­ten ei­nen Na­men ge­macht, war ur­sprüng­lich den So­zial­re­vo­lu­tio­nä­ren zu­ge­tan, nach der er­folg­rei­chen Re­vo­lu­tion sang er dann das Lied der Bol­sche­wi­ki. Ein un­ste­ter Typ. Auf­brau­send, schwan­kend in sei­nen Zu­nei­gun­gen und Ab­leh­nun­gen, ran­da­lie­rend und zu­neh­mend dem Al­ko­hol ver­fal­len.

Beide waren Vortrags­künst­ler, die ihr je­wei­li­ges Pu­bli­kum in ihren Bann ziehen konn­ten. Und das war viel­leicht schon eines der Pro­ble­me, die die 1922 ein­ge­gan­ge­ne Ehe am Ende scheitern lie­ßen. Man konn­te nicht im Schat­ten des an­de­ren exis­tie­ren, Jessenin noch we­ni­ger als Duncan. Wäh­rend sie den um viele Jah­re Jüngeren in die große Welt ein­füh­ren woll­te, sein Ge­nie auch über die Grenzen Russ­lands hin­weg be­kannt ma­chen wollte, hatte der ge­nug damit zu tun zwischen Min­der­wer­tig­keits­kom­plexen und Grö­ßen­wahn seinen Platz zu finden. Als man ge­mein­sam auf eine Tour­nee durch Europa, später auch durch die USA ging, kam es zu weiteren Pro­ble­men: Jes­se­nin sprach nur Rus­sisch und hatte auch kei­ner­lei Am­bitionen, das zu än­dern. Wer etwas von ihm woll­te, soll­te das in seiner (Jes­se­nins) Spra­che tun, Dun­can be­müh­te sich zwar da­rum Russisch zu lernen, ihr Wort­schatz blieb aber immer der­art be­schränkt, dass man sich fragt, wie sich die bei­den über­haupt ver­stän­di­gen konn­ten. Jes­se­nin war in der wei­ten Welt iso­liert und fühl­te sich un­be­ach­tet.

In Berlin, der ersten Sta­tion die­ser Tournee, gab es noch ei­ne große russische Ge­mein­de, vor der Jessenin sei­ne Gedichte vortrug. Das Pu­bli­kum war eine Mischung aus Exilierten und Sym­pa­thi­san­ten der Revolution, und es kam zum Tumult als er die "In­ter­nationale" an­stimm­te. So ging es wei­ter über Bel­gien nach Paris und Italien. Die Einreise in die USA ge­lang nicht auf Anhieb, da Dun­can die Rus­si­sche Staats­an­ge­hö­rig­keit an­ge­nom­men hat­te und sich Jes­se­nins Pro­vo­kationen bis zur US-ame­ri­ka­nischen Ein­wan­de­rungs­be­hör­de he­rum­ge­spro­chen hat­ten. Erst durch ein­fluss­rei­che Freunde ge­lang es schließlich doch. Allerdings mussten sich bei­de dazu ver­pflich­ten, jede prosowjetische Pro­pa­gan­da zu un­ter­las­sen und auf An­grif­fe gegen die USA zu ver­zich­ten. Beide hielten sich na­tür­lich nicht an diese Auf­la­gen, Dun­can tanzte wei­ter die "In­ter­nationale", Jes­se­nin brüll­te dazu Parolen aus der Loge und schwenk­te eine rote Fah­ne.

Die Ehe der beiden war ein ständiges auf und ab zwi­schen über­schäu­men­der Lie­be und zer­stö­re­rischen Ei­fer­suchts­an­fäl­len. Dazu kam Jes­se­nins im­mer exzessivere Trinkerei, die zu Tätlichkeiten ge­gen Isadora führte und der das eine oder an­de­re Hotel­zimmer zum Opfer fiel. Man trennte sich, fand wieder zu­sam­men, trennte sich, sehn­te sich nach ein­an­der und ver­such­te es erneut. Und so fort. Als man 1923 zurück in die Sowjetunion kam, hatte man sich weitgehend ent­frem­det. Zwar be­wohn­te das Paar eine Zeit­lang noch das selbe Haus, ging aber ge­trenn­te We­ge. Duncan wollte ihre Tanzschule erweitern, schei­ter­te da­bei aber an fi­nan­ziel­len Proble­men. Jessenin, der während seines Aus­lands­auf­ent­halts nichts ge­schrie­ben hatte, erlebte seine pro­duk­tivs­te Phase, ver­sank aber immer mehr im Chaos seines Al­ko­ho­lis­mus.

Duncan verließ 1924 die Sow­jet­union, ging nach Ber­lin, spä­ter zu­rück nach Paris. Sie tanz­te weiter ih­ren Mensch­heits­traum, wäh­rend Jes­se­nin schrieb, soff und sich ein weiteres Mal ver­hei­ra­te­te. Er er­häng­te sich in der Nacht vom 27. zum 28. De­zem­ber 1925 in einem Ho­tel­zim­mer. Zuvor hat­te er mit seinem eigenen Blut ein Ab­schieds­ge­dicht an ei­nen engen Freund ge­schrie­ben. Duncan über­leb­te ihn um 2 Jahre. Im September 1927 er­drosselte sie sich mit ihrem langen Schal, der sich in den Spei­chen eines Bugatti verfangen hatte, mit dem sie eine Pro­be­fahrt machen wollte.

Als Quellen für ihr Buch gibt Carola Stern unter anderem die her­vor­ra­gen­de Jessenin-Bio­gra­phie von Fritz Mierau an, die ich jedem emp­feh­len kann, der sich mit der künst­lerischen, ins­be­son­dere der li­te­ra­ri­schen Entwicklung im Russ­land die­ser Epo­che be­fas­sen möchte.

29. März 2020

Biographisches

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