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Autoren Glossen Lyrik

Enzensberger Der kurze Sommer der Anarchie Hans Magnus En­zens­ber­ger
Der kurze Sommer der Anar­chie. Roman.
Suhrkamp Verlag 1972, 299 Sei­ten
ISBN 3-518-02760-3

Die Gat­tungs­be­zeich­nung des Bu­ches als "Ro­man" führt in die Ir­re. Tat­säch­lich han­delt es sich um ei­ne Col­la­ge um die Per­son des spa­ni­schen Anar­chis­ten Buo­na­ven­tu­ra Dur­ru­ti, ein­ge­bet­tet in die Ge­schich­te der so­zia­len Be­we­gung, der er an­ge­hör­te, mit dem Kul­mi­na­tions­punkt sei­nes To­des wäh­rend des Spa­ni­schen Bür­ger­kriegs.

Die Elemente dieser Col­la­ge be­ste­hen aus Zi­ta­ten von Mit­kämp­fern, Jour­na­lis­ten, His­to­ri­kern, Geg­nern, the­ma­tisch zu­sam­men­ge­fasst in Ka­pi­teln, von de­nen ei­ni­ge mit ei­ner "Glos­se" En­zens­ber­gers er­öff­net wer­den. Es ent­steht ein dis­pa­ra­tes Bild so­wohl des spa­ni­schen Anar­chis­mus als auch der Per­son Dur­ru­tis, der – je nach Stand­punkt der Quel­len – als Aben­teu­rer, Ver­bre­cher, wa­ge­mu­ti­ger Gue­ril­le­ro oder un­fä­hi­ger mi­li­tä­ri­scher Füh­rer be­schrie­ben wird.

Der spanische Anar­chis­mus, vor allem in seiner syn­di­ka­lis­ti­schen Variante, war eine Mas­sen­be­we­gung in der zwei­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts bis zum Ende des Spanischen Bür­ger­kriegs im Jahr 1939. Die CNT (Con­federacion Nacional del Trabajo) war die größte spa­ni­sche Ge­werk­schaft mit deut­lich über einer Million Mit­glie­der in den 30er Jahren des 20. Jahr­hun­derts. Sie war ein­deu­tig anar­cho­syn­di­ka­lis­tisch aus­ge­rich­tet. Ihr po­li­ti­scher Arm, die FAI (Fe­de­ra­cion Anar­quista Iberica), agierte in Teilen aus dem Unter­grund und war – ne­ben der ei­gent­li­chen po­li­ti­schen Arbeit – ver­ant­wort­lich für An­schlä­ge und Raub­über­fäl­le zur Fi­nan­zie­rung di­ver­ser Pro­jek­te.

Durruti war Mit­glied in beiden Or­ga­ni­satio­nen und mehr­mals in­haf­tiert wegen des Ver­dachts der Be­tei­li­gung an ille­ga­len Ak­ti­vi­tä­ten. Meh­re­re Jah­re leb­te er im Exil in Frank­reich und Süd­a­me­ri­ka, 1932 kehr­te er nach Spanien zurück und be­tei­lig­te sich an den sozialen Kämp­fen der Zeit.

Als im Juli 1936 Ge­ne­ral Fran­co mit seinen Trup­pen ge­gen die re­pu­bli­ka­ni­sche Re­gie­rung putsch­te, stellten sich ihm vor al­lem bewaffnete Bau­ern und Ar­bei­ter ent­ge­gen. Die Anar­chis­ten gerieten in die Zwick­müh­le zwi­schen Ko­ope­ra­tion mit der bür­ger­li­chen Re­gie­rung, die sie ei­gent­lich stürzen woll­ten, und dem Versuch, den Wi­der­stand ge­gen den Putsch mit ei­ner so­zia­len Revolution zu ver­bin­den. Die sich daraus er­ge­ben­den Konflikte mach­ten sich auch innerhalb von CNT und FAI be­merk­bar.

Durruti wurde am 19. No­vem­ber 1936 von ei­ner Ku­gel ge­trof­fen, deren Her­kunft bis heu­te un­ge­klärt ist. Die Spe­ku­la­tio­nen rei­chen von ei­nem fran­quis­ti­schen Ge­schoss, das wäh­rend der Be­la­ge­rung von Madrid aus ei­nem um­stell­ten Ge­bäu­de ab­ge­feuert worden ist, über ein Mord­kom­plott der Kom­mu­nis­ten gegen den po­pu­lä­ren Mi­li­zio­när, so­gar ein An­schlag aus den eigenen Reihen wird nicht aus­ge­schlos­sen. Am wahr­schein­lichs­ten er­scheint ein Un­fall, bei dem sich der Schuss aus Dur­ru­tis eigener Waf­fe lös­te, während er aus ei­nem Wa­gen stieg. Einen Tag spä­ter ist er tot.

Geschichte ist selten ein­deu­tig und in diesem Fall gilt das ganz be­son­ders. Die Vielzahl der zitierten Stim­men ist ver­wir­rend, das Buch macht aber ge­ra­de da­durch die Wi­der­sprüch­lich­keit und Am­bi­va­lenz der Protagonisten die­ser ge­schicht­li­chen Epo­che trans­pa­ren­ter.

16. September 2022

Anarchismus

Geschichte

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