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Luigi Guarnieri: Das Doppelleben des Vermeer Luigi Guarnieri
Das Doppelleben des Ver­meer.
Aus dem Italienischen von Maja Pflug.
Büchergilde Gutenberg 2005, 223 Seiten
ISBN 3-7632-5619-9

Die Aufregung in den Nie­der­lan­den war groß, als sich un­ter den Tau­sen­den Ge­mäl­den, die sich Her­mann Gö­ring in der Zeit sei­ner Macht­fül­le auf die eine oder an­de­re Wei­se an­ge­eig­net hatte, auch ein Ver­meer fand: "Christus und die Ehe­bre­che­rin". Zum Skan­dal wurde die Ge­schich­te, als sich her­aus­stell­te, dass es ein mit­tel­mäßiger nieder­län­di­scher Gen­re­maler, Han van Mee­ge­ren, war, der die­ses Meis­ter­werk über Mit­tels­män­ner an den Nazi ver­kauft hat­te. Landes­verrat, Kol­la­bo­ra­tion, Aus­ver­kauf na­tio­na­ler Kul­tur­gü­ter! Darauf könnte die To­des­stra­fe ste­hen!

Van Meegeren windet sich, will von dem Verkauf an Gö­ring nichts gewusst haben, doch die Beweise werden er­drü­ckend. Dann die über­ra­schen­de Wen­de: Van Mee­ge­ren ge­steht, den Ver­meer ge­fälscht zu haben! Ist das mög­lich? Er soll es be­wei­sen, in­dem er im Ge­fäng­nis eine wei­te­re Fäl­schung an­fer­tigt. Und es ge­lingt! Van Mee­ge­ren gesteht weitere Fäl­schun­gen. Über­wie­gend Jan Ver­meer, aber auch Frans Hals, Pie­ter de Hooch und an­de­re, die er für be­trächt­liche Be­trä­ge an ver­mö­gen­de Samm­ler ver­kau­fen lässt.

Van Meegeren: Christus und die Jünger in EmmausSein Motiv be­schreibt er als Ra­che an den Kunst­kri­ti­kern, die sein ei­ge­nes Werk als Kitsch be­zeich­nen, wäh­rend sie die Künst­ler der Mo­der­ne, die für van Mee­ge­ren Di­let­tan­ten sind, loben. Sie will er bloß stellen, ih­re Un­kennt­nis will er ent­lar­ven. Und es ge­lingt ihm, (fast) alle zu täu­schen. Obwohl es ein Leich­tes gewesen wäre, die un­be­kann­ten Vermeers als Fäl­schun­gen zu erkennen. So­wohl hand­werk­li­che Män­gel als auch eine eingehende Ana­ly­se der Farb­zu­sam­men­set­zung hätten schnell er­ken­nen lassen, dass es sich um nicht einmal besonders gute Fäl­schun­gen han­del­te. Heute wür­de man es wohl "Hype" nen­nen, was sich da­mals in der niederländischen Kunst­welt zugetragen hat. Mah­nen­de Stimmen, die es durchaus gab, wurden über­hört, die Prei­se für Vermeer ex­plo­dier­ten, van Meegeren lebte in Saus und Braus und kos­te­te sei­nen Triumph in vol­len Zü­gen aus.

Nach einer erstaunlich kur­zen Ge­richts­ver­hand­lung (die ins­ge­samt nur fünf­ein­halb Stun­den gedauert hat) wird van Mee­ge­ren zu einem Jahr Haft ver­ur­teilt. Er stirbt am 30. De­zem­ber 1947 nach zwei schwe­ren Herz­anfällen.

Luigi Guarnieri beschreibt die Er­eig­nis­se reich an Details, gibt ei­nen Überblick über die Ent­wick­lung Jan Vermeers (des­sen Groß­va­ter müt­ter­li­cher­seits übrigens ein Kunst­fäl­scher ge­we­sen sein soll) und dessen Re­zep­tion vom fast vergessenen Künst­ler zum Natio­nalidol. Der Schwer­punkt liegt jedoch auf dem Werde­gang Han van Mee­ge­rens vom talentierten Ma­ler – der zu Beginn sogar als neuer Stern am nieder­län­dischen Kunst­him­mel ge­han­delt wur­de, dessen Oevre aber zu­neh­mend in die Kritik ge­riet, man warf ihm vor nicht mit der Zeit zu gehen, ent­schei­den­de Im­pul­se der Mo­der­ne ver­säumt zu ha­ben – zum ver­bitterten und auf Ra­che sin­nen­den Fäl­scher, der nicht nur dem Mammon son­dern auch dem Morphium ver­fiel.

Ein Kapitel befasst sich mit den Machen­schaften Gö­rings und an­de­rer Na­zi­größen, um sich Kunst­werke anzu­eignen, die ih­nen im Zu­ge der mi­li­tä­ri­schen Ex­pan­sion zu­gäng­lich ge­wor­den waren. Be­son­de­re Be­ach­tung findet Görings Haft in Nürn­berg und die Um­stän­de, die es ihm er­mög­lich­ten, sich kurz vor seiner Hin­rich­tung mit einer Zy­an­ka­li­kap­sel ums Le­ben zu brin­gen. Er nennt die Namen der­je­ni­gen, die ihm das Gift besorgt und in die Zelle ge­bracht haben sol­len. Die his­to­ri­sche For­schung ist sich bis heute in die­ser Frage nicht si­cher.

In einer Anmerkung am Ende des Bandes betont Guarnieri sich "streng an die Quellen, die Daten, die Dokumente" (S. 222) gehalten zu haben und zi­tiert Gore Vidal, der in ei­nem fik­ti­ven Dia­log über die Ver­läss­lich­keit eines Histori­kers schreibt: "Na­tür­lich er­fin­det er alles, was er schreibt, wie wir alle." (S. 222)

Henry Keazor weist in der Frank­furter Rund­schau vom 12. April 2005 darauf hin, dass Guarnieri seine Haupt­quel­le (Lord Kil­bracken: Van Mee­ge­ren, London 1967), aus der er große Pas­sa­gen wört­lich zitiert, ohne es an­zu­ge­ben, in der ita­lieni­schen Ori­gi­nal­aus­gabe ver­schweigt.

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30. Mai 2021

Kunst

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