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Tilman Jens: Vatermord Tilman Jens
Vatermord.
Wider einen Ge­ne­ral­ver­dacht.
Gütersloher Ver­lags­haus 2010, 191 Sei­ten
ISBN 978-3-579-06870-1

2009 veröffentlichte Til­man Jens ein Buch, das sich mit dem Ab­glei­ten seines Va­ters in die De­menz aus­ei­nan­der­setz­te [1]. Er stell­te den Be­ginn der Er­kran­kung in ei­nen un­mit­tel­ba­ren Zu­sam­men­hang mit dem Be­kannt­wer­den der NSDAP-Mit­glied­schaft von Wal­ter Jens, über die die­ser im­mer ge­schwie­gen hatte und dann be­haup­te­te, kei­ner­lei Er­in­ne­rung an ei­ne Unter­schrift zur Auf­nah­me in die Partei zu ha­ben.

Neben einigen lo­ben­den Kri­ti­ken gab es heftige An­grif­fe ge­gen Tilman Jens, dem man vor­warf, noch zu Leb­zei­ten sei­nes Va­ters des­sen Krank­heit bis in in­tims­te De­tails be­schrie­ben zu haben und damit das Bild, das in der Öf­fent­lich­keit von sei­nem Vater be­stan­den hat­te, nach­hal­tig zer­stört zu ha­ben. Im Grun­de warf man ihm den ödi­pa­len Va­ter­mord vor.

2010 antwortete Tilman Jens auf all diese An­wür­fe mit po­le­mi­schem Furor in seinem Buch "Va­ter­mord". Er ist ver­letzt, fühlt sich miss­ver­stan­den und als Opfer einer Treib­jagd. Er ver­steht nicht die Em­pö­rung da­rü­ber, dass er ei­nen Vor­ab­druck des Bu­ches aus­ge­rech­net in der Bild-Zei­tung ver­öf­fent­li­chen ließ, und er­klärt aus­führ­lich, wa­rum er das Buch sei­ner "Mami" ge­wid­met hat. Ödi­pa­le Kon­flik­te, wo er doch sei­nen Va­ter so geliebt hat und sie ein so gutes Ver­hält­nis zu­ei­nan­der hat­ten? Wa­rum, fragt er sich und uns, dür­fen Daniel Kehl­mann und Syl­via Za­cha­rias über die De­menz ihrer Väter re­den und pu­bli­zie­ren, ohne dass ih­nen Ähn­li­ches vor­ge­wor­fen wird wie ihm?

Tilman Jens hält den Vor­wurf des Va­ter­mor­des für jus­ti­zia­bel und referiert den Fall des Phi­lipp Hals­mann, der in den 20er Jah­ren des vo­ri­gen Jahr­hun­derts des Va­ter­mor­des an­ge­klagt und, trotz feh­len­der Be­wei­se und mas­si­ver Pro­tes­te der Öf­fent­lich­keit [2], auch ver­ur­teilt wurde. Er zitiert li­te­ra­ri­sche Bei­spie­le für die Pro­ble­ma­tik (Schil­ler, Ha­sen­cle­ver, Bron­nen usw) und stellt die The­se auf, dass die Söh­ne be­deu­ten­der Män­ner als ihr Ei­gen­tum betrachtet wer­den und ih­re Versuche sich zu be­haup­ten, als ein Ver­stoß ge­gen die na­tür­li­che Ord­nung (mit Bezug auf Luther) an­ge­se­hen und ent­spre­chend sank­tio­niert wird. Aber der Hass der Söh­ne liegt im Ver­hal­ten der Vä­ter be­grün­det, und "wenn sie (die Söh­ne KM) ih­re Wut un­ter­drü­cken, dann war der Weg in die Selbst­zer­stö­rung oft nicht weit." (S. 171) [3]

Das Buch ist auch eine klei­ne Kul­tur­ge­schich­te des Va­ter-Sohn-Kon­flikts und das macht es, trotz des lar­mo­yan­ten Un­ver­ständ­nis­ses für sei­ne Kri­ti­ker, zur stre­cken­wei­se in­te­res­san­ten Lek­tü­re. An­sons­ten ist "Va­ter­mord" ein trau­ri­ges Bei­spiel dafür, wie ein Mensch, der sich zu Un­recht an­ge­grif­fen fühlt, durch die Art und Weise, in der er sich ver­tei­digt, die ge­gen ihn er­ho­be­nen An­schul­di­gun­gen plau­sib­ler macht.

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1. Tilman Jens: Demenz. Ab­schied von meinem Va­ter.

2. Neben anderen Thomas Mann, Albert Einstein und Sig­mund Freud.

3. Als Beispiele nennt er August Goethe und Klaus Mann. August war Al­ko­ho­li­ker, Klaus Morphinist.

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20. November 2022

Inge Jens: Un­voll­stän­di­ge Er­in­ne­run­gen

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