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Victor Klemperer: LTI Victor Klemperer
LTI – Notizbuch ei­nes Phi­lo­lo­gen.
Reclam Verlag Leip­zig 1996, 367 Sei­ten
ISBN 3-379-00759-5

Victor Klemperer ver­lor 1935 sei­ner jü­di­schen Her­kunft we­gen sei­ne Pro­fes­so­ren­stel­le an der Tech­ni­schen Hoch­schu­le Dres­den. Als Fa­brik­ar­bei­ter ver­brach­te er die wei­te­ren Jah­re des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus, ab 1940 leb­ten er und sei­ne Frau [1] in di­ver­sen „Ju­den­häu­sern". Der Zu­gang zu Bi­blio­the­ken und zu je­der fach­wis­sen­schaft­li­chen Li­te­ra­tur war ihm ver­bo­ten, so­dass ei­ne Fort­set­zung sei­ner Ar­beit über die „Ge­schich­te der fran­zö­sischen Li­te­ra­tur im 18. Jahr­hundert" nur noch sehr ein­ge­schränkt mög­lich war. Statt­des­sen schrieb er sei­ne Be­ob­ach­tun­gen und Ge­dan­ken in Ta­ge­buch­form nie­der. Aus die­sen um­fang­rei­chen Auf­zeich­nun­gen ent­stand nach der Be­frei­ung das „No­tiz­buch ei­nes Phi­lo­lo­gen", wo­bei LTI für Lin­gua Ter­tii Im­pe­rii (Spra­che des Drit­ten Rei­ches) steht. Es war die ers­te Pu­bli­ka­tion zu die­sem The­ma, sie ist 1947 im Auf­bau-Ver­lag er­schie­nen.

Klemperer beobachtet und be­schreibt in 36 Ka­pi­teln und ei­nem Nach­wort die Ver­än­de­run­gen der deut­schen Spra­che seit der Macht­er­grei­fung durch die National­sozialisten. Er un­ter­schei­det da­bei zwischen Be­grif­fen, die es schon vor 1933 ge­ge­ben hat, die aber ih­re Be­deu­tung und die Häu­fig­keit ih­rer Ver­wen­dung verändert ha­ben, und Wörtern, die erst durch die Na­zis selbst ins Le­ben gerufen worden sind. Aus­ge­hend von ei­ner gleich­ge­schal­te­ten Presse und der stän­di­gen Be­rie­se­lung durch den Rundfunk, frisst sich das Na­zi­vokabular mit der Zeit durch alle Bereiche der Ge­sell­schaft [2]. Es erreicht schließ­lich auch Gegner des Regimes und nicht zuletzt ihn selbst [3].

Klemperer sieht die Ur­sprün­ge des Nazismus in der deut­schen Romantik [4], den ras­sis­tisch be­grün­de­ten Anti­se­mi­tis­mus [5] leitet er vom Gra­fen Go­bi­neau her [6]. Auch der Zio­nis­mus hat nach Klemperer seine Wur­zeln in der deut­schen Ro­man­tik, was ihn zu einigen irritierenden Schluss­fol­ge­run­gen bringt [7].

LTI ist keine wissen­schaft­liche oder sys­te­ma­ti­sche Ar­beit. Es han­delt sich um Be­ob­ach­tun­gen und Re­fle­xio­nen über die Be­deu­tung von Spra­che als Aus­druck gesell­schaft­licher Ver­hält­nis­se und des herr­schen­den Men­schen­bil­des.

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1. Eva Klemperer (geb. Schlem­mer; 1882 – 1951) war kei­ne Jüdin (um den Ausdruck „Arierin" zu ver­mei­den). Sie war Pianistin, Malerin und literarische Über­setzerin. LTI ist ihr ge­wid­met.

2. „... der Na­tio­nal­so­zia­lis­mus glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzel­worte, die Re­de­wen­dun­gen, die Satz­for­men, die er ihr in millio­nenfachen Wieder­ho­lun­gen aufzwang und die me­cha­nisch und unbewußt über­nommen wur­den." S. 24

3. „Ich schreibe nun schon eine gan­ze Weile: es war ... es war. Aber wer hat den ges­tern erst gesagt: »Ich muß mir ein bißchen Ta­bak or­ga­ni­sie­ren«? Ich fürchte, das bin ich selber gewesen." S. 131

4. „Denn alles, was den Nazismus aus­macht, ist ja in der Romantik keim­haft enthalten; die Ent­thro­nung der Vernunft, die Ani­ma­li­sierung des Menschen, die Ver­herrlichung des Macht­ge­dan­kens, des Raub­tiers, der blonden Bestie ..." S. 180

5. Im Gegensatz zum religiös be­grün­de­ten Anti­semitismus.

6. Joseph Arthur de Go­bi­neau (1816 – 1882): Versuch über die Un­gleich­heit der Menschen­ras­sen. (1853-1855)

7. „Verwandtschaft des Stils zwi­schen Rosenberg und Buber, Ver­wandt­schaft in mancher Wer­tung – Ackerbau und Mystik über No­ma­den­tum und Ra­tio­na­lismus zu stellen, ist auch aus Ro­sen­bergs Her­zen gesprochen –: scheint sie nicht noch befremd­licher als die Ver­wandt­schaft zwischen Hitler und Herzl? Die Erklärung des Phä­no­mens aber ist in beiden Fällen die gleiche: Romantik, nicht nur ver­kitsch­te, sondern auch echte, beherrscht die Zeit, und aus ihrem Quell schöpfen beide, die Un­schul­di­gen und die Gift­mischer, die Opfer und die Henker." S. 272

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17. Mai 2020

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