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Gabriele D'Annunzio und die Republik von Fiume Kersten Knipp:
Die Kommune der Fa­schis­ten.
Gabriele D'Annunzio und die Re­pu­blik von Fiu­me.
Dittrich Verlag 2025, 398 Sei­ten, ISBN 978-3-910732-47-6

Fiume, bis 1918 zu Un­garn ge­hö­rig und da­mit Teil der Habs­bur­ger Mo­nar­chie, wur­de nach dem Ers­ten Welt­krieg zum Streit­ob­jekt zwi­schen Ita­lien und dem neu ge­grün­de­ten Kö­nig­reich Ju­go­sla­wien. Die Groß­mäch­te plan­ten, die mehr­heit­lich von Ita­lie­nern be­wohn­te Stadt un­ter ein Völ­ker­bund­man­dat zu stel­len.

Gabriele D'Annunzio, der als Schrift­stel­ler be­reits vor dem Krieg eine Be­rühmt­heit war, hat­te sich zu ei­nem mehr­fach de­ko­rier­ten Kriegs­hel­den und cha­ris­ma­ti­schen Red­ner ent­wi­ckelt. Am 12. Sep­tem­ber 1919 be­setz­ten er und sei­ne An­hän­ger die Stadt, um sie dem Kö­nig­reich Ita­lien ein­zu­ver­lei­ben. D'An­nun­zios Ge­folg­schaft be­stand über­wie­gend aus den „Ar­di­ti“, vom Krieg ent­wur­zel­ten und ver­roh­ten jun­gen Män­nern, de­nen ihr ei­ge­nes Le­ben eben­so we­nig wert war wie das der an­de­ren. D'An­nun­zio selbst hat­te wäh­rend des Krie­ges ei­nen Per­sön­lich­keits­wan­del er­lebt, der ihn von ei­nem über­stei­ger­ten Äs­the­ti­zis­mus und der Ver­ach­tung für jede Form ro­her Ge­walt zu ei­nem fa­na­ti­schen Pa­tri­o­ten und Ver­herr­li­cher sol­da­ti­schen Hel­den­tums mu­tie­ren ließ.

Am 8. September 1920 ver­kün­de­te der Schrift­stel­ler und Selbst­in­sze­nie­rer eine „Car­ta del Car­na­ro“ als Ver­fas­sung für sei­ne selbst aus­ge­ru­fe­ne „Ita­lie­ni­sche Re­gent­schaft am Car­na­ro“.

Sie garantierte allen Bür­gern – un­ab­hän­gig von Ge­schlecht, Her­kunft oder Re­li­gion – glei­che Rech­te, Min­dest­löh­ne, so­zia­le Ab­si­che­rung und so­gar eine Art Grund­ein­kom­men. Pres­se- und Ver­samm­lungs­frei­heit wur­den ga­ran­tiert. Gleich­zei­tig er­klär­te sie Ei­gen­tum zur „so­zia­len Funk­tion“ und er­mög­lich­te Ent­eig­nun­gen. Ar­ti­kel wie die Er­he­bung der Mu­sik zur „re­li­giö­sen und so­zia­len In­sti­tu­tion“ zeug­ten von D'An­nun­zios äs­the­ti­schem Über­schwang.

Fiume wurde zur Büh­ne für Ex­zes­se: Or­gien, Dro­gen­kon­sum, po­li­ti­sche Dau­er­de­bat­ten in Ca­fé­häu­sern, ein ex­zes­si­ves Nacht­le­ben. D'An­nun­zio in­sze­nier­te Fiu­me als „Stadt des Le­bens“, in der bür­ger­li­che Nor­men sus­pen­diert wa­ren. Frau­en durf­ten wäh­len, Ho­mo­se­xua­li­tät war straf­frei, die Pres­se frei. Doch die Wirt­schaft brach zu­sam­men, als Ita­lien und Ju­go­sla­wien eine Blo­cka­de um die Stadt ver­häng­ten.

Am 12. November 1920 ei­nig­ten sich Ita­lien und das Kö­nig­reich der Ser­ben, Kro­a­ten und Slo­we­nen über die Gren­zen zwi­schen bei­den Län­dern und er­klär­ten Fiu­me zum „Un­ab­hän­gi­gen Frei­staat Fiu­me“.

Am 1. Dezember 1920 er­klär­te D'An­nun­zio da­rauf­hin Ita­lien den Krieg. Nach Be­schuss durch das Schlacht­schiff „An­drea Do­ria“ ka­pi­tu­lier­te er am 31. De­zem­ber und zog sich mit sei­nen An­hän­gern aus der Stadt zu­rück. Doch sein Ex­pe­ri­ment wirk­te nach: Die In­sze­nie­rung von Mas­sen­ri­tu­a­len, der Füh­rer­kult und die Äs­the­ti­sie­rung der Po­li­tik wur­den zum Vor­bild für Mus­so­li­nis Fa­schis­mus.

Kersten Knipp zeigt in „Die Kom­mu­ne der Fa­schis­ten“, wie D'An­nun­zios Re­pu­blik Vor­läu­fer fa­schis­ti­scher Prak­ti­ken war. Gleich­zei­tig war Fiu­me ein Ort der Wi­der­sprü­che: so­zia­lis­ti­sche For­de­run­gen tra­fen auf na­tio­na­lis­ti­schen Wahn, künst­le­ri­sche Uto­pien auf po­li­ti­sches Chaos. Knipp ver­gleicht die Epi­so­de mit der Hip­pie­be­we­gung der 1968er, be­tont aber, dass D'An­nun­zio vor al­lem ein skru­pel­lo­ser Selbst­dar­stel­ler war, der die Stim­mung ei­ner trau­ma­ti­sier­ten, ori­en­tie­rungs­lo­sen Nach­kriegs­ge­sell­schaft aus­nutz­te.

Die erste Hälfte des Bu­ches be­schreibt die his­to­ri­schen und psy­cho­lo­gi­schen Vo­raus­set­zun­gen für die Er­eig­nis­se, die sich dann in Fiu­me ab­spiel­ten. Die Bil­dung ei­nes Na­tio­nal­staats im 19. Jahr­hun­dert, die Be­mü­hun­gen, sich wirt­schaft­lich dem Ni­veau an­de­rer eu­ro­pä­i­scher Na­tio­nen an­zu­nä­hern, und schließ­lich der Kriegs­ein­tritt 1915 mit den Ver­spre­chun­gen von ter­ri­to­ri­a­len Zu­ge­win­nen im Fall des Sie­ges der En­ten­te. Doch dem wach­sen­den Na­tio­nal­be­wusst­sein stan­den die Trau­ma­ta ei­nes ent­fes­sel­ten Krie­ges ge­gen­über, der vie­le nicht nur in die Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit stürz­te, son­dern auch po­li­ti­sche und so­zia­le Maß­stä­be ver­lie­ren ließ.

Das letzte Kapitel des Bu­ches ana­ly­siert die auf­stre­ben­den rechts­po­pu­lis­ti­schen Par­tei­en und Be­we­gun­gen in Eu­ro­pa und den USA und un­ter­sucht ihre his­to­ri­schen Wur­zeln, die Knipp bis zu D'An­nun­zio und sei­nem Ex­pe­ri­ment in Fiu­me rei­chen sieht.


5. Oktober 2025

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