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Fiume, bis 1918 zu Ungarn gehörig und damit Teil der Habsburger Monarchie, wurde nach dem Ersten Weltkrieg zum Streitobjekt zwischen Italien und dem neu gegründeten Königreich Jugoslawien. Die Großmächte planten, die mehrheitlich von Italienern bewohnte Stadt unter ein Völkerbundmandat zu stellen. Gabriele D'Annunzio, der als Schriftsteller bereits vor dem Krieg eine Berühmtheit war, hatte sich zu einem mehrfach dekorierten Kriegshelden und charismatischen Redner entwickelt. Am 12. September 1919 besetzten er und seine Anhänger die Stadt, um sie dem Königreich Italien einzuverleiben. D'Annunzios Gefolgschaft bestand überwiegend aus den „Arditi“, vom Krieg entwurzelten und verrohten jungen Männern, denen ihr eigenes Leben ebenso wenig wert war wie das der anderen. D'Annunzio selbst hatte während des Krieges einen Persönlichkeitswandel erlebt, der ihn von einem übersteigerten Ästhetizismus und der Verachtung für jede Form roher Gewalt zu einem fanatischen Patrioten und Verherrlicher soldatischen Heldentums mutieren ließ. Am 8. September 1920 verkündete der Schriftsteller und Selbstinszenierer eine „Carta del Carnaro“ als Verfassung für seine selbst ausgerufene „Italienische Regentschaft am Carnaro“. Sie garantierte allen Bürgern – unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder Religion – gleiche Rechte, Mindestlöhne, soziale Absicherung und sogar eine Art Grundeinkommen. Presse- und Versammlungsfreiheit wurden garantiert. Gleichzeitig erklärte sie Eigentum zur „sozialen Funktion“ und ermöglichte Enteignungen. Artikel wie die Erhebung der Musik zur „religiösen und sozialen Institution“ zeugten von D'Annunzios ästhetischem Überschwang. Fiume wurde zur Bühne für Exzesse: Orgien, Drogenkonsum, politische Dauerdebatten in Caféhäusern, ein exzessives Nachtleben. D'Annunzio inszenierte Fiume als „Stadt des Lebens“, in der bürgerliche Normen suspendiert waren. Frauen durften wählen, Homosexualität war straffrei, die Presse frei. Doch die Wirtschaft brach zusammen, als Italien und Jugoslawien eine Blockade um die Stadt verhängten. Am 12. November 1920 einigten sich Italien und das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen über die Grenzen zwischen beiden Ländern und erklärten Fiume zum „Unabhängigen Freistaat Fiume“. Am 1. Dezember 1920 erklärte D'Annunzio daraufhin Italien den Krieg. Nach Beschuss durch das Schlachtschiff „Andrea Doria“ kapitulierte er am 31. Dezember und zog sich mit seinen Anhängern aus der Stadt zurück. Doch sein Experiment wirkte nach: Die Inszenierung von Massenritualen, der Führerkult und die Ästhetisierung der Politik wurden zum Vorbild für Mussolinis Faschismus. Kersten Knipp zeigt in „Die Kommune der Faschisten“, wie D'Annunzios Republik Vorläufer faschistischer Praktiken war. Gleichzeitig war Fiume ein Ort der Widersprüche: sozialistische Forderungen trafen auf nationalistischen Wahn, künstlerische Utopien auf politisches Chaos. Knipp vergleicht die Episode mit der Hippiebewegung der 1968er, betont aber, dass D'Annunzio vor allem ein skrupelloser Selbstdarsteller war, der die Stimmung einer traumatisierten, orientierungslosen Nachkriegsgesellschaft ausnutzte. Die erste Hälfte des Buches beschreibt die historischen und psychologischen Voraussetzungen für die Ereignisse, die sich dann in Fiume abspielten. Die Bildung eines Nationalstaats im 19. Jahrhundert, die Bemühungen, sich wirtschaftlich dem Niveau anderer europäischer Nationen anzunähern, und schließlich der Kriegseintritt 1915 mit den Versprechungen von territorialen Zugewinnen im Fall des Sieges der Entente. Doch dem wachsenden Nationalbewusstsein standen die Traumata eines entfesselten Krieges gegenüber, der viele nicht nur in die Orientierungslosigkeit stürzte, sondern auch politische und soziale Maßstäbe verlieren ließ. Das letzte Kapitel des Buches analysiert die aufstrebenden rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen in Europa und den USA und untersucht ihre historischen Wurzeln, die Knipp bis zu D'Annunzio und seinem Experiment in Fiume reichen sieht. 5. Oktober 2025 |
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