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Salcia Landmann Jiddisch Salcia Landmann
Jiddisch. Abenteuer einer Spra­che.
dtv 1964, 267 Sei­ten

Laut Salcia Landmann und Franz J. Beranek, der das Vor­wort ver­fass­te, ist Jiddisch ei­ne "Nah­spra­che des Deut­schen". Es entstand im spä­ten Mit­tel­al­ter aus deut­schen Dia­lek­ten und wurde erst im ost­eu­ro­pä­ischen Raum un­ter sla­wi­schen Ein­flüs­sen und der Bei­men­gung von Sprach­ele­men­ten aus an­de­ren Spra­chen zu einer ei­ge­nen Spra­che [1], die mit dem Deut­schen ähnlich ver­wandt ist wie das Nie­der­län­dische.

Das Jiddische galt vie­len als Kau­der­welsch und "auf­ge­klär­te" Ju­den wie Moses Men­dels­sohn (1729 – 1786) strit­ten da­für, es zu­guns­ten der je­wei­li­gen Lan­des­spra­chen auf­zu­ge­ben. Doch in den os­teu­ro­päischen jü­di­schen Ge­mein­den ge­lang­te Jid­disch mit der Zeit zu einer Kul­tur­spra­che mit ei­ner selbst­stän­di­gen Li­te­ra­tur. Die be­kann­tes­ten jiddisch schrei­ben­den Au­to­ren dürften Scho­lem Alej­chem (1859 – 1916), Schalom Asch (1880 – 1957), Jizchak Katzenel­son (1886 – 1944), des­sen "Dos Lid funm ojsgehargetn jidischen folk" un­ter anderem von Wolf Bier­mann später ins Deutsche über­tra­gen worden ist [2], so­wie Jizchok Leib Perez (1852 – 1915) und Isaac Ba­she­vis Sin­ger (1904-1991) sein, der 1978 den Nobelpreis für Li­te­ra­tur erhielt.

Doch das Jiddische ist eine ster­ben­de Spra­che, be­fürch­tet Sal­cia Land­mann, der Shoah fie­len Mil­li­o­nen ost­eu­ro­päische Ju­den zum Op­fer. Zwar ge­be es in Is­ra­el, den USA und Süd­a­me­ri­ka noch jü­di­sche Ge­mein­den, in denen vor­wie­gend jid­disch ge­spro­chen wird, aber die Im­pul­se [3], die eine le­ben­de Spra­che braucht, um zu überleben, wür­den mit jeder Ge­ne­ra­tion we­ni­ger und ein En­de sei ab­seh­bar.

Ein eigenes Kapitel wid­met die Autorin den Ein­flüs­sen des Jid­di­schen auf das Rot­welsch, ei­ner Spra­che der Gau­ner und Fah­ren­den. Durch den Aus­schluss der Ju­den aus bür­ger­li­chen Be­ru­fen ver­dien­ten viele ih­ren Un­ter­halt als fah­ren­de Händ­ler, Be­rüh­rungs­punk­te mit an­de­ren um­her­zie­hen­den Grup­pen be­stan­den al­so reich­lich.

Ein Kapitel mit Le­se­pro­ben jid­di­scher Anek­do­ten in jid­disch und deutsch, ein jid­di­sches Le­xi­kon sowie ei­ne kom­men­tier­te Bi­blio­gra­phie be­schlie­ßen den Band.

Verstörend fand ich Begriffe wie "Wirts­völ­ker" und "Blut­er­be" so­wie Passagen wie die fol­gen­de: "Die­se gleiche kon­ser­va­ti­ve Haltung, die­se Tra­di­tions­treue ließ sie (die Ju­den KM) nun auch inmitten ei­ner rück­stän­di­gen, pri­mi­ti­ven sla­wi­schen Welt an der weit hö­her ent­wi­ckel­ten Kultur und Spra­che der ver­lo­re­nen deut­schen Heimat fest­hal­ten." S. 27

Salcia Landmann (1911 – 2002) studierte Phi­lo­so­phie bei Ni­co­lai Hart­mann und Her­man Schma­len­bach, 1939 pro­mo­vier­te sie an der Uni­ver­si­tät Zü­rich mit ei­ner Dis­ser­ta­tion über "Phä­no­me­no­lo­gie und On­to­lo­gie. Husserl, Sche­ler, Hei­deg­ger.", be­kannt ge­wor­den ist sie mit ihren Pu­bli­ka­tio­nen über jü­di­sche Wit­ze.

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1. "Und hier nun, im Os­ten, wur­de die­ses Ju­den­deutsch zur wirk­li­chen Spra­che. Hier erhielt es Nuan­cen und Far­be aus der sla­wi­schen Umwelt. Hier bekam es Schliff, Ele­ganz und Schärfe aus dem pau­sen­lo­sen Studium des he­brä­isch-aramäischen Schrift­tums der nach­bi­bli­schen Zeit mit sei­nen me­ta­phy­sischen und ju­ris­ti­schen De­bat­ten. Und es be­wahr­te den vol­len Klang und al­ter­tüm­li­chen Reiz des Mit­tel­hoch­deut­schen." S. 27f

2. Großer Gesang vom aus­ge­rot­te­ten jüdischen Volk. Köln 1994

3. "Die jiddische Sprache stirbt, weil die Preisgabe der ei­ge­nen, der se­mi­ti­schen geistig-geist­lichen Tra­di­tion der Juden ihr den Le­bens­quell, die for­men­de, bil­den­de Kraft raubt, so daß sie, selbst wenn sie noch ein Weil­chen exis­tie­ren sollte, zu dem wird ab­sin­ken müs­sen, was sie in den Augen des Wes­tens auch in ih­rer Blü­te­zeit und blü­hen­den Form gewesen ist: zu einem Jar­gon." S. 44

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1. September 2023

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