Ich
bin in Theben (Ägypten) geboren, wenn ich auch in Elberfeld zur Welt
kam im Rheinland. Ich ging bis 11 Jahre zur Schule, wurde Robinson, lebte
fünf Jahre im Morgenlande, und seitdem vegetiere ich. [1]
Else Lasker-Schüler,
eigentlich: Elisabeth, * 11. 2. 1869 Elberfeld, † 22. 1. 1945 Jerusalem;
Lyrikerin, Dramatikerin, Erzählerin.
Im Urteil Peter Hilles (»eine Sappho, der die Welt entzwei gegangen
ist«) wie Benns (»die größte
Lyrikerin, die Deutschland je hatte«) ist schon früh der hohe Rang
von Lasker-Schülers lyrischem Werk belegt, das 1902 mit dem Band Styx
einsetzt. In leidenschaftlich bewegter Sprache und kühnen Bildern
reflektiert sie Situationen existentiellen Betroffenseins, so die Trennung
von ihrem ersten Mann Berthold Lasker (Karma. Später unter dem
Titel Scheidung), dem sie nach der Heirat 1894 nach Berlin folgte.
Lasker-Schüler, die nach Schulabbruch 1880 als Tochter eines Bankiers
Privatunterricht erhielt und in Berlin ihr Zeichentalent ausbildete, war im
Verzicht auf bürgerliche Lebensformen dem Vagantendichter Hille wesensverwandt,
mit dem sie, wohl seit 1898, eine elementare, ihre weitere Entwicklung bestimmende
Freundschaft verband. Durch ihn fand sie zur von den Brüdern Hart gegründeten
Künstlerkolonie »Neue Gemeinschaft«. Der hier postulierten
Kunst des »fühlenden Menschen«, einer in einem »visionär
ekstatischen« Schöpfungsakt sich vollziehenden »unmittelbare[n]
Gefühlsdarstellung«, entsprachen Lasker-Schülers frühe
lyrische Gesänge in bisher ungekannter Expressionalität.
Von Hille, der sie ihr Judentum als Charisma begreifen lehrte, empfing Lasker-Schüler
Züge einer mystischen, nach All-Einheit strebenden Religiosität;
ihr neues Welt- u. Selbstverständnis spiegelt der Zyklus Der siebente
Tag (Berlin 1905). Lasker-Schülers erstes Prosawerk, Das Peter Hille-Buch
(Stuttgart 1906), gewidmet dem Gedenken an »Petrus den Felsen«, erhöht
ihre gemeinsame Zeit zum Weg in ein traumhaft legendäres Reich. Hier
gründet der Prozeß einer Selbstmythisierung, der fortan ihr Leben
und Werk bestimmt und sie ihr Dichten als »mystisches Sichselbsthaben«
(Bänsch) erfahren läßt, das sie immer wieder aus Daseinskrisen
rettet. So antwortet sie auf Hilles Tod mit dem ersten ihrer orientalischen
Geschichtenbücher, Die Nächte Tino von Bagdads (Berlin u.a. 1907),
in dem sie sich zur in einem imaginären Orient beheimateten »Prinzessin«
verklärt. Auch im Briefroman Mein Herz (München/Berlin 1912) ist es eine
»Nacht meiner tiefsten Not« – das Zerbrechen ihrer zweiten Ehe
mit Herwarth Walden –, die sie mit kühner Selbstmythisierung, diesmal
zum »Prinzen von Theben«, überwindet. Das ungemein facettenreiche
Werk bietet überdies eine originell verfremdete Darstellung der Berliner
Kunstszene, zu deren zentralen Gestalten die häufig nomadisierende, in
Cafés Hof haltende Dichterin zählte, umgeben von Vertrauten wie
Benn, Dehmel, Döblin, Pinthus, Grosz, Marc – ferner
Brod und Werfel in Prag und Altenberg, Kokoschka, Trakl und vor allem Kraus in Wien.
Das Erleben des Weltkriegs suchte Lasker-Schüler mit dem Stilprinzip
des Spiels in der »Kaisergeschichte« Der Malik (Berlin 1919), einer
Huldigung für ihren gefallenen »blauen Reiter« Franz Marc,
zu bewältigen. In einem gloriosen Maskenspiel um Liebe, Krieg und Tod
wandelt sich die anfängliche Projektion einer besseren Welt zunehmend
zur Einsicht in die tragische Verfassung des Menschen und seiner Geschichte;
es endet in ergreifender Totenklage.
Fortschreitend gewinnen die Dichtungen Lasker-Schülers religiösen
Charakter, begreift sie Kunst als priesterlichen Dienst, als ein »Platzmachen
für Gott« (Ich räume auf! Zürich 1925). So vollzieht
sie in den von ihr als Höhepunkt ihrer Lyrik angesehenen Hebräischen
Balladen (Berlin 1913) die Transsubstantiation biblischer Gestalten in Figuren
ihres hebräischen Mythos. Auch die ihre Herkunft und Familie einbeziehenden
Dichtungen (Ich räume auf und Konzert Berlin 1932. Das Hebräerland.
Zürich 1937) will sie verstanden wissen als einen »Extrakt höherer
Wahrheit« (Konzert). Analog bezeichnet Lasker-Schüler ihr »aus
dunkler Erinnerung« an ihre unvergessene Heimat geschriebenes Schauspiel
Die Wupper (Berlin 1909. Uraufführung. 1919) als »eine böse Arbeitermär,
die sich nie begeben hatte, aber deren Wirklichkeit phantastisch ergreift«
(Ich räume auf). Bemerkenswert ist die Hellsicht für die Heterogenität
der Gesellschaft, deren Mißstände Lasker-Schüler in ihrer
Absurdität entlarvt.
Die Stilisierung ihrer Familiengeschichte zur Legende setzt ein mit der zum
Kult gesteigerten Verehrung der Mutter (u.a. Meine schöne Mutter blickte
immer auf Venedig. Im Rosenholzkästchen), deren Herkunft wie auch die
eigene sie nach Spanien, eine Region ihres imaginären Orients – »meine
Vorfahrengeschichten verlangen Morgenland« (Mein Herz) –, verlegt. Hier
gründet auch der Prozeß der Mythisierung ihres Urgroßvaters,
des Lehrers Hirsch Cohen, den sie in dem Schauspiel Arthur Aronymus und seine
Väter und der diesem zugrundeliegenden Prosaskizze Arthur Aronymus (beide
Berlin 1932) zum »Rabbuni Uriel« mit der fiktiven Würde eines
»Oberrabbiners von Rheinland und Westfalen« erhebt. Den sich ankündigenden
neuerliche Verfolgungen des jüdischen Volks hält Lasker-Schüler
Uriels ideale Menschlichkeit und hohe Toleranz entgegen. Ihre Hoffnung auf
Versöhnung – als Verwirklichung ihres dichterischen Erlösungsauftrags
– schlägt sich in der beeindruckenden Schlußszene des gemeinsam
von Juden und Christen gefeierten Passahmahls nieder.
Sie verlässt Deutschland nach tätlichen Angriffen auf offener Straße
im April 1933. Erst nach einer Palästinareise
1934 fand sie mit ihrem Prosaband Das Hebräerland wieder zum Wort. In
diesem Alterswerk, Zeugnis ihrer unzerstörbaren Liebe zum Menschen, verklärt
sie das Erlebnis Palästinas zum Traum vom Heiligen Land, in dem Juden und
Araber paradiesische Brüderlichkeit lernen; es gewinnt seine Legitimation
aus Lasker-Schülers hier endgültig vollzogener Identifikation mit
der alttestamentlichen Gestalt Josephs von Ägypten.
In ihrem letzten Gedichtband, Mein blaues Klavier (Jerusalem 1943),
erscheinen die früheren emotionalen Eruptionen und die Formvirtuosität
zugunsten eines beherrschten Altersstils zurückgenommen. Die kühnen
Tropen sind einer verinnerlichten Bilderwelt gewichen, die verdunkelt ist
vom Versinken in Einsamkeit und Armut des Exils (Die Verscheuchte), wehmütigen
Erinnerungen an Elternhaus und verlorene Heimat (Meine Mutter. Über glitzernden
Kies) und düsteren Todesahnungen (Ich weiß). Die frühe Vorwegnahme
ihres qualvollen Sterbens im Gedicht (Und meine Seele verglüht in den
Abendfarben Jerusalems) offenbart ihre Hinwendung zum Land ihrer Väter
und das Bekenntnis zum Gott des Alten Testaments. Zugleich aber lebte Lasker-Schüler
bis zuletzt bewußt aus dem sprachlichen Erbe ihrer deutschen Heimat,
deren Verlust sie nie verschmerzte.
(Dieser Text basiert auf dem entsprechenden Eintrag in 'Wilpert: Lexikon der Weltliteratur' und wurde von mir modiziert)
• Dann
• Heimlich zur Nacht
• Herzkirschen waren meine Lippen beid'
• Höre
• In deinen Augen
• Klein Sterbelied
• Liebessterne
• Mein Liebeslied
• So lange ist es her
• Weltflucht
Sekundärliteratur
-Bänsch, Dieter: Else Lasker-Schüler. Zur Kritik eines etablierten Bildes. Stuttgart 1971.
-Bauschinger, Sigrid: Else Lasker-Schüler. Biographie. Wallstein Verlag, Göttingen 2004.
-Burdorf, Dieter (Hrsg): Liebender Streit. Else Lasker-Schüler und
Gottfried Benn. Tagungsprotokolle - Institut für Kirche und Gesellschaft.
Iserlohn 2002.
-Klüsener, Erika: Else Lasker-Schüler mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hamburg 1998.
-Kuckart, Judith / Aufenanger, Jörg: Else Lasker-Schüler. in: Karl Corino (Hrsg): Genie und Geld. Greno Verlag, Nördlingen 1987, S. 387-398.
-Linsel, Anne/Matt, Peter von (Hrsg): Deine Sehnsucht war die Schlange.
Ein Else Lasker-Schüler-Almanach, Bd. 3. Peter Hammer Verlag/Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft,
Wuppertal 1997.
-Sanders-Brahms, Helma: Gottfried Benn und Else Lasker-Schüler. Giselheer
und Prinz Jussuf. Rowohlt Paare, Reinbek b. Hamburg 1998.
-Wallmann, Jürgen P.: Else Lasker-Schüler. Stieglitz-Verlag/E. Händle (Genius der Deutschen), Mühlacker 1966.
(1) Selbstauskunft in Pinthus (Hrsg): Menschheitsdämmerung.
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