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Nastassja Martin An das Wilde glauben Nastassja Martin
An das Wilde glauben.
Aus dem Fran­zö­si­schen von Clau­dia Kal­scheu­er.
Matthes & Seitz Berlin 2021, 139 Sei­ten, ISBN 978-3-7518-0017-4

Nastassja Martin (*1986) ist An­thro­po­lo­gin und Au­to­rin, ihr For­schungs­ge­biet ist der Ani­mis­mus, den sie zu­erst bei den Gwich'in in Alas­ka stu­dier­te. Spä­ter wird sie bei den Ewe­nen auf der Halb­in­sel Kam­tschat­ka le­ben, ei­nem halb­no­ma­di­schen Volk, das durch Jagd und Ren­tier­zucht sein Über­le­ben si­chert. Auch hier fin­det sie aus­ge­präg­te ani­mis­ti­sche Vor­stel­lun­gen, die sich trotz des ge­sell­schaft­li­chen und wirt­schaft­li­chen Wan­dels, von dem auch die Le­bens­wei­se der Ewe­nen nicht un­be­rührt ge­blie­ben ist, be­wahrt ha­ben.

Nach einiger Zeit des Auf­ent­halts bei den Ewe­nen stel­len sich wie­der­keh­ren­de Träu­me ein, die Bä­ren zum In­halt ha­ben, die In­di­ge­nen nen­nen Nas­tass­ja "ma­tu­cha" (=Bä­rin). Bei ei­ner Er­kun­dung weit au­ßer­halb der Sied­lung, in der sie lebt, kommt es un­er­war­tet zu ei­ner Be­geg­nung mit ei­nem Bä­ren, der sie an­fällt, ihr in den Kopf und ins Bein beißt. Sie kann ihn mit ih­rem Eis­pi­ckel ver­let­zen und ver­trei­ben.

Ein Teil des Kie­fers muss er­setzt wer­den, die Wun­den sind schwer, das Kran­ken­haus, in dem sie be­han­delt wird, wirkt weit von west­li­chen Stan­dards ent­fernt. Als sie, ei­ni­ger­ma­ßen ku­riert, nach Pa­ris ver­legt wird, er­öff­net ihr die zu­stän­di­ge Ärz­tin, dass das Im­plan­tat er­setzt wer­den muss. Es er­folgt eine er­neu­te Ope­ra­tion, bei der Kran­ken­haus­kei­me über­tra­gen wer­den, wie man spä­ter in ei­nem Schwei­zer Hos­pi­tal fest­stel­len wird.

Zwei Jahre nach dem Er­eig­nis in Kam­tschat­ka kehrt Nas­tass­ja zu­rück zu den Ewe­nen, und erst hier be­ginnt der ei­gent­li­che Hei­lungs­pro­zess, der ihre Ge­dan­ken und Fra­gen, die sie in den lan­gen Wo­chen der Iso­la­tion in den Kran­ken­häu­sern be­schäftigt ha­ben, auf ein neu­es Ni­veau hebt. Sie ist eine "mied­ka" ge­wor­den, halb Mensch, halb Bär, ein We­sen, das zwi­schen den Wel­ten lebt. Aber eben­so ist die west­li­che Me­di­zin in sie ein­ge­drun­gen, ist sie Teil ei­nes Sys­tems ge­wor­den, das sich vor al­lem über sei­ne tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten de­fi­niert.

Nastassja Martin re­flek­tiert ihre Er­fah­run­gen, so­wohl in der Me­di­zin als auch in der An­thro­po­lo­gie, und setzt sich mit der west­li­chen Tren­nung von Mensch und Na­tur aus­ei­nan­der. Für die Ewe­nen, bei de­nen die Gren­zen zwi­schen Mensch, Tier und Na­tur flie­ßend sind, ist die Be­geg­nung mit dem Bä­ren ein Teil ei­ner vor­be­stimm­ten, spi­ri­tu­el­len Ord­nung. Sie be­ginnt zu be­grei­fen, dass der Bär nicht nur ein Tier war, son­dern auch eine Spie­ge­lung ih­rer ei­ge­nen in­ne­ren Rei­se und ih­rer Su­che nach ei­ner tie­fe­ren Ver­bin­dung zur Na­tur. Dem Auf­ei­nan­der­tref­fen, der Be­geg­nung, die sie ge­le­gent­lich als Um­ar­mung oder so­gar als Kuss be­zeich­net, lag et­was Vor­her­be­stimm­tes, et­was Schick­sal­haf­tes zu­grun­de. Bär und Mensch ha­ben ei­nan­der ge­sucht und sind je­weils Teil des an­de­ren ge­wor­den.

Das Buch ist eine Mi­schung aus per­sön­li­chen Er­leb­nis­sen und an­thro­po­lo­gi­scher Re­fle­xion, die eine ei­ge­ne Per­spek­ti­ve auf den Ani­mis­mus und das Ver­hält­nis zwi­schen Mensch und Na­tur bie­tet. Nas­tass­ja Mar­tin stellt sich der Fra­ge, was es be­deu­tet, Teil ei­ner sol­chen Welt zu sein, in der Tie­re und Men­schen als gleich­wer­ti­ge, füh­len­de We­sen an­ge­se­hen wer­den.


29. November 2024

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