Kassiber leer
Autoren Glossen Lyrik

Vladimir Nabokov: Deutliche Worte Vladimir Nabokov
Deutliche Worte. Interviews – Le­ser­brie­fe – Aufsätze.
(=Gesammelte Werke, Band XX)
Rowohlt Verlag 1993, 570 Sei­ten
ISBN 3 498 04658 6

Der Band ent­hält 22 In­ter­views, 11 zum Teil sehr um­fang­rei­che Le­ser­brie­fe, 9 Auf­sät­ze und 5 le­pi­dop­te­ro­lo­gi­sche (Schmet­ter­lin­ge be­tref­fen­de) Schrif­ten. Au­ßer­dem ein Nach­wort des Her­aus­ge­bers Die­ter E. Zim­mer so­wie, als An­hang, ei­nen Ar­ti­kel von Ed­mund Wil­son über die Über­set­zung von Pusch­kins 'Eu­gen One­gin' durch Na­bo­kov, auf den in den In­ter­views und Le­ser­brie­fen mehr­fach ein­ge­gan­gen wird.

Der erste Satz in Na­bo­kovs Vor­wort zu dem Band lautet: "Ich den­ke wie ein Genie, ich schrei­be wie ein Schriftsteller von Rang, und ich rede wie ein klei­nes Kind." So be­grün­det er das ei­gen­wil­li­ge Pro­ce­dere, zu dem sich Interviewer bereit er­klä­ren müssen, bevor sie dem Meis­ter ge­gen­über treten dür­fen: Die Fragen wer­den schrift­lich eingereicht, Na­bo­kov be­ant­wor­tet sie schrift­lich, die In­ter­viewer ver­pflich­ten sich, nichts an den Aus­sa­gen Na­bo­kovs zu ver­än­dern. Of­fen­bar hatte er schlech­te Er­fah­run­gen ge­macht und woll­te Ähnliches fort­an ver­mei­den [1]). Ich stelle mir die Szene vor: In einem Sessel sitzt der In­ter­viewer mit seinen Fra­gen, ihm gegenüber (oder seit­lich ver­setzt? Na­bo­kov hät­te das si­cher ganz genau wis­sen wol­len und sich vorher viel­leicht so­gar eine Skiz­ze von der An­ord­nung der Möbel und der an­we­sen­den Personen ge­macht...) Nabokov mit seinen Ant­wor­ten. Man liest sich wech­sel­sei­tig vor und ver­ab­schie­det sich wieder. Wer­den Ge­trän­ke ser­viert (wenn ja, wel­che?), sind Fo­to­gra­fen, Ka­me­ra­leu­te an­we­send, Na­bo­kovs Frau Vera viel­leicht? Wer­den Hände ge­schüt­telt, lä­chelt man sich zu oder geht das Ganze in ge­schäfts­mä­ßi­ger Eile von­stat­ten? Als Le­ser/­in er­fährt man nichts da­von. Na­bo­kov wäre als Re­zen­sent der­ar­ti­ger Ver­öf­fent­li­chun­gen oh­ne konkrete Be­schrei­bung des Tableaus si­cher ver­är­gert ge­we­sen.

Nabokov spricht über seine Le­bens­sta­tio­nen (ge­bo­ren im za­ris­ti­schen Russland, Exil in Lon­don und Berlin, Aufenthalt in Frank­reich, Übersiedelung in die USA, Lebensabend in Mon­treux in der Schweiz), die Schwie­rig­kei­ten beim Sprach­wech­sel vom Rus­si­schen ins Eng­li­sche, seine Lei­den­schaft für Schmet­ter­lin­ge, er ver­weist auf Be­son­der­hei­ten seines Werks und beschreibt seinen Ar­beits­stil. Er erklärt sein me­tho­di­sches Vor­ge­hen beim Le­sen fremder Werke (siehe oben), be­nennt seine be­vor­zug­ten Autoren (Borges, Joyce, ei­gent­lich aber doch nur den 'Ulys­ses', Kafkas 'Ver­wand­lung', Belyjs 'Pe­ters­burg' und die erste Hälfte von Prousts 'Auf der Suche nach der ver­lo­re­nen Zeit', Man­del­stam. Ak­tu­el­le ame­ri­ka­ni­sche Au­to­ren: Sa­lin­ger und Up­dike.) und sol­che, die er ver­ach­tet bzw. für überschätzt hält (Tho­mas Mann, Gals­worthy, Drei­ser, Ta­go­re, Gor­kij, Romain Rol­land, Pas­ter­nak, Faulk­ner [2]).

Die abgedruckten Le­ser­brie­fe wa­ren Re­ak­tio­nen auf Zeit­schrif­ten­ar­ti­kel, in denen er sich miss­ver­stan­den oder falsch in­ter­pre­tiert fühl­te. Es ist deut­lich zu spüren, wie sehr es ihn är­gert, wenn Re­zen­sen­ten Parallelen zu an­de­ren Au­to­ren zie­hen, ihm gar un­ter­stel­len von ei­ni­gen in sei­nem Stil be­ein­flusst ge­we­sen zu sein. Bis in kleins­te De­tails kor­ri­giert er Jour­na­lis­ten, um ih­re Ah­nungs­lo­sig­keit oder Un­fähig­keit nach­zu­wei­sen. An vie­len Stel­len wirkt das klein­krä­me­risch und we­nig sou­ve­rän. Wie üb­ri­gens auch sei­ne fast zwang­haft an­mu­ten­de häu­fi­ge Herab­setzung der Psy­cho­ana­lyse und ihres Be­grün­ders Sig­mund Freud.

In den 9 Aufsätzen reflektiert Na­bo­kov die Ver­än­de­run­gen in der russischen Literatur seit der Zei­ten­wende durch die Ok­to­ber­re­vo­lution, pul­ve­ri­siert die Kri­tik Edmund Wilsons an sei­ner Über­setzung des Eu­gen One­gin und breitet aus­führ­lich sei­ne Feh­de mit dem ersten Ver­le­ger von 'Lolita', Maurice Giro­dias von Olympia Press, aus. Ne­ben­bei entsteht da­bei die Edi­tions­ge­schich­te seines ers­ten großen li­te­ra­ri­schen Er­folgs. [3]

Dass Vladimir Nabokov einer der größten Autoren des 20. Jahr­hun­derts gewesen ist, da­ran dürfte kaum ein Zweifel be­ste­hen. Dass er, zumindest zeit­wei­se (böse Zungen be­haup­ten: immer) bla­siert und arro­gant gewesen ist, ist mir durch die­sen Band klar ge­wor­den, der – wie nicht an­ders von ei­nem "Schrift­stel­ler von Rang" zu erwarten ist – Sät­ze enthält, für die man auf die Knie sinken müss­te, an­de­rer­seits aber auch durch die häufigen Wie­der­ho­lun­gen ähn­lich for­mu­lier­ter State­ments durch­aus Er­mü­dun­gen spürt.

----------------------------

1. "Tatsächlich hatte er Jour­na­lis­ten im Laufe der Jahre schon an die vier­zig «normale» Interviews ge­ge­ben, als er 1962 begann, sei­ne Ant­wor­ten vorher schriftlich zu fixieren und ihre wörtliche Wie­der­ga­be zur Be­din­gung zu ma­chen. Der Hauptauslöser für die­sen Sin­nes­wan­del war mehr­fa­cher Ärger über das, was er nach im­pro­vi­sier­ten In­ter­views zu le­sen bekam." S. 516 (Aus dem Nach­wort des Her­aus­ge­bers Dieter E. Zimmer)

2. "Seit den Zeiten, wo solche Mus­ter­exemplare von Mit­tel­mä­ßigkeit wie Galsworthy, Dreiser, ein Mensch namens Tagore, ein an­de­rer namens Maxim Gorkkij und ein drit­ter namens Romain Rolland all­ge­mein als Genies ge­han­delt wur­den, bin ich aus der Ver­blüf­fung und Erheiterung an­ge­sichts der be­griff­li­chen Falsch­münzerei um die sogenannten «großen Bücher» nicht heraus­gekommen. Daß man bei­spiels­wei­se Thomas Manns Ese­lei vom Tod in Venedig oder Pas­ter­naks melodramatischen und miserabel geschriebenen Dok­tor Schiwago oder Faulkners hin­ter­wäld­le­ri­sche Heimat­chroniken für «Meis­ter­werke» halten kann – oder zu­min­dest für das, was nach der Sprachregelung der Zei­tungs­schrei­ber «große Bücher» heißt –, er­scheint mir als der gleiche abs­tru­se Wahn, wie wenn ein Hyp­no­ti­sier­ter einen Ses­sel be­gat­tet." S. 97 (Aus einem Inter­view für das Kulturprogramm Te­le­vi­sion 13 aus New York)

3. ab Seite 415

----------------------------

14. November 2022

Über Literatur

Gelesen : Weiteres : Impressum