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Michael Ondaatje: Anils Geist Michael Ondaatje
Anils Geist.
Übersetzt von Me­la­nie Walz
Carl Hanser Verlag 2000, 324 Seiten
ISBN 3-446-19917-9

Anil, in Sri Lan­ka ge­bo­ren, wird in Eng­land und den USA aus­ge­bil­det und ar­bei­tet als fo­ren­si­sche Pa­tho­lo­gin. Sie hat sich aus ei­ner Lie­bes­be­zie­hung ge­löst und reist im Auf­trag ei­ner Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tion zu­rück in ihr Ge­burts­land. Dort herrscht seit Jah­ren Krieg, in den die Re­gie­rung und meh­re­re Grup­pen Auf­stän­di­scher ver­wi­ckelt sind. Anil soll Be­wei­se da­für fin­den, dass auch Re­gie­rungs­trup­pen fol­tern und mor­den, sie wird da­bei von dem Ar­chäo­lo­gen Sa­rath un­ter­stützt. In­mit­ten ei­ner ihr fremd ge­wor­de­nen Um­ge­bung be­ginnt sie mit der Su­che und stößt auf ein Ske­lett, das die nö­ti­gen Be­wei­se lie­fern könn­te. Es wur­de in ei­nem ar­chäo­lo­gisch sehr viel äl­te­ren Feld ge­fun­den, um sei­ne tat­säch­li­che Her­kunft zu ver­tu­schen.

Das Land ist in ein Inferno ver­sun­ken, Men­schen ver­schwin­den, ver­stüm­mel­te Lei­chen tau­chen auf, der Hor­ror ist all­ge­gen­wär­tig [1]. Der er­blin­de­te ehemalige Pro­fes­sor Palipana, bei dem Sarath stu­diert hatte, lebt mit seiner Nichte weitab in einer Ein­sie­de­lei. Er soll den Schädel des Ermordeten be­gut­ach­ten und rät den beiden Wis­sen­schaft­lern dazu, sich an den Künst­ler Ananda Udugama zu wen­den, um sich ein Modell des Kopfes an­fer­ti­gen zu las­sen.

Auf dem Weg dorthin sehen sie am Straßen­rand einen LKW, des­sen Fahrer mit Ei­sen­klam­mern, die durch seine Hän­de ge­schla­gen wur­den, auf der Stra­ße ge­kreu­zigt wur­de. Sie schaf­fen ihn ins Kran­ken­haus zu Gamini, Sa­raths Bruder, der sich dort nur noch mit Auf­putsch­mit­teln wach­hal­ten kann.

Ananda Udu­gama be­ginnt mit der Ar­beit am Kopf des To­ten. Er ist zum Al­ko­ho­li­ker ge­wor­den nach­dem seine Frau Jah­re zuvor spurlos ver­schwun­den war. Anil rettet ihm später das Leben als er sich die Keh­le durch­schneiden will.

Nach und nach lüftet sich das Ge­heim­nis der Identität des To­ten, nach und nach wird sich aber Anil auch unsicher über die Ziele Saraths. Auf wel­cher Seite steht er? Am Ende, als sie die Beweise für den staatlichen Terror aus­ge­rech­net in einem Saal voller Mi­li­tär­angehöriger vortragen soll, ist die Leiche durch eine an­de­re ersetzt wor­den und Sa­rath bezieht Stel­lung gegen sie.

Nachdem man ihr alle Un­ter­la­gen ab­ge­nom­men hat, kann sie ge­de­mü­tigt das Ge­bäu­de ver­las­sen und erfährt, dass Sarath alle getäuscht hat, um ihre Rettung zu ermöglichen. Da­rü­ber­hinaus hat er alle Be­weis­mittel gesichert und ihr wieder zu­kom­men lassen. Wenig spä­ter wird seine Lei­che ge­fun­den.

Ondaatje, der selbst in Sri Lan­ka ge­bo­ren wurde, be­schreibt die Höl­le des Krie­ges am Bei­spiel des Bür­ger­krie­ges im Land seiner Her­kunft. Er schreibt über Verlust, über Men­schen, die in­mit­ten apo­ka­lyp­ti­scher Umstände trau­ma­ti­siert leben und ar­bei­ten, und er schreibt über das Un­ver­ständ­nis derer, die das alles mit der Distanz des westliches Blickes be­ob­ach­ten. Ver­schie­dene Be­rei­che des Lebens werden ver­meint­lich zu­sam­men­hang­los ne­ben­ei­nan­der ge­stellt, Ver­knüp­fun­gen ergeben sich erst nach und nach und struk­turieren so ein viel­schich­tiges Pa­no­ra­ma. "In unserer Welt ist die Wahr­heit fast immer nur eine Mei­nung." S. 109

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1. "Um halb sechs Uhr mor­gens er­wacht Sirissa und ba­det am Brun­nen hin­ter dem Haus, in dem sie wohnt. Sie zieht sich an, ißt ein paar Früch­te und macht sich auf den Weg zur Schu­le. Es ist der altvertraute Weg. Sie weiß, daß sie sich auf der Brücke träge um­dre­hen wird, nachdem sie an den Jungen vor­bei­ge­gan­gen ist. Es wird die vertrauten Vögel geben – Brah­mi­nen­wei­hen, vielleicht einen Fliegen­schnäp­per. Die Straße ver­engt sich. Hundert Meter vor ihr liegt die Brücke. Links die Lagune. Rechts der Salzwasserfluß. Heu­te morgen sind keine Fischer auf dem Wasser, und die Straße ist verlassen. Sie beschreitet sie als erste, weil sie als Dienst­mädchen an der Schule arbeitet. Halb sieben. Niemand, zu dem sie sich umdrehen könnte, um zu zeigen, daß sie sich ihm eben­bürtig weiß. Es sind noch zehn Meter bis zur Brücke, als sie die Köpfe von zwei Schülern auf Pfählen erblickt, zu beiden Seiten der Brücke, einander ge­gen­über. Siebzehn, achtzehn, neun­zehn Jahre alt ... sie weiß es nicht, und es ist ihr egal. Am anderen Ende der Brücke sieht sie zwei weitere Köpfe, und selbst von hier aus erkennt sie einen davon wieder. Am liebsten würde sie sich ganz klein machen und zurück­laufen, aber sie kann nicht. Sie spürt, daß hinter ihr etwas ist, das, was dies hier verursacht hat. Sie wünscht sich, zu Luft zu werden. Kann keinen Gedanken fassen. Sie kommt nicht einmal auf die Idee, sie von dieser öffentlichen Zur­schau­stellung zu erlösen. Kann nichts berühren, weil alles sich lebendig anfühlt, versehrt und wund, aber lebendig. Sie beginnt zu rennen, an ihren Augen vorbei, die eigenen fest ge­schlos­sen, bis sie daran vorbei ist. Den Hügel hoch zur Schule. Sie rennt weiter, und dann sieht sie mehr." S. 186f

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30. Juni 2020

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