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Richard Parry Die Bonnot-Bande Richard Parry
Die Bonnot-Bande.
Aus dem Englischen von Osama Gobara.
bahoe books 2017, 199 Sei­ten, ISBN 978-3-903022-44-7

Das Frankreich des be­gin­nen­den 20. Jahr­hun­derts war ge­kenn­zeich­net durch eine star­ke Ver­ar­mung der un­te­ren Ge­sell­schafts­schich­ten. Ar­bei­ter und Ar­beits­lo­se wa­ren der Will­kür der Bour­geoi­sie aus­ge­lie­fert, häu­fig auf­fla­ckern­de Streiks und Pro­tes­te wur­den mit äu­ßers­ter Bru­ta­li­tät nie­der­ge­schla­gen. In­ner­halb der Ar­bei­ter­be­we­gung gab es un­ter­schied­li­che Frak­tio­nen, de­ren Zie­le und Me­tho­den nicht mit­ei­nan­der ver­ein­bar wa­ren. Die größ­te Ge­werk­schaft CGT (Con­fé­dé­ra­tion gé­né­rale du tra­vail) ge­riet zu­neh­mend un­ter den Ein­fluss re­for­mis­ti­scher Kräf­te, von de­nen sich ra­di­ka­le­re Grup­pen nicht re­prä­sen­tiert sa­hen. Eine die­ser Grup­pen wa­ren die Anar­chis­ten, die aber wie­de­rum kei­ne ein­heit­li­che Po­si­tion ver­tra­ten. Wäh­rend die Syn­di­ka­lis­ten die Or­ga­ni­sa­tion der Ar­bei­ter in Ge­werk­schaf­ten be­für­wor­te­ten, wenn auch mit ei­nem er­heb­lich ra­di­ka­le­ren An­satz, als es in der CGT durch­zu­set­zen war, hin­gen nicht we­ni­ge in­di­vi­dual­a­nar­chis­ti­schen Vor­stel­lun­gen an. Ih­nen stand die Frei­heit des Ein­zel­nen über der des Kol­lek­tivs, die Re­vol­te im Hier und Jetzt ent­sprach eher ih­rem Im­pe­tus als die lang­fris­ti­ge Ar­beit in Or­ga­ni­sa­tio­nen jed­we­der Art.

Große Teile die­ser Sze­ne leb­ten ve­ge­ta­risch und wa­ren An­hän­ger der Theo­rien Max Stir­ners, man lehn­te den Ge­nuss von Ta­bak, Kaf­fee und Al­ko­hol ab, leb­te in kom­mu­ne­ähn­li­chen Ge­mein­schaf­ten oder zog al­lei­ne oder in klei­nen Grup­pen durchs Land. Lang­fris­ti­ge Ar­beits­ver­hält­nis­se wa­ren in die­sem Mi­lieu eher sel­ten, der Man­gel an al­lem die Re­gel.

Vor diesem Hintergrund bil­de­ten sich kleine Grup­pen in wech­seln­der Besetzung, die spä­ter als Il­le­ga­lis­ten be­zeich­net wur­den. Sie be­gin­gen Dieb­stäh­le, Fäl­schun­gen von Mün­zen, be­trie­ben Han­del mit Heh­ler­wa­re u.ä., um ih­ren Le­bens­un­ter­halt zu fi­nan­zie­ren. Sie ver­stan­den das als re­vo­lu­tio­nä­re Ak­tio­nen, als Ent­eig­nung un­recht­mä­ßig an­ge­eig­ne­ten Ei­gen­tums im Sin­ne Proud­hons: Ei­gen­tum ist Dieb­stahl!

Kontakte zu kriminellen Krei­sen wa­ren nicht zu ver­mei­den, nicht sel­ten so­gar er­wünscht, um Waf­fen er­wer­ben zu kön­nen und das Die­bes­gut zu ver­äu­ßern.

Jules Bonnot (1876-1912), der we­gen sei­ner po­li­ti­schen Ak­ti­vi­tä­ten mehr­mals sei­ne Ar­beit ver­lo­ren hat­te, hat­te Er­fah­run­gen als Me­cha­ni­ker und in ei­ner Au­to­mo­bil­fa­brik ge­sam­melt, so­dass er, nach ei­ner er­neu­ten Ent­las­sung we­gen auf­rüh­re­ri­scher Re­den, auf die Idee kam, sich ei­ner die­ser il­le­ga­lis­ti­schen Grup­pen an­zu­schlie­ßen, um mit ge­stoh­le­nen Au­to­mo­bi­len Über­fäl­le durch­zu­füh­ren, die die Flucht­mög­lich­kei­ten er­heb­lich ver­bes­ser­ten, da die Po­li­zei über­wie­gend noch mit Fahr­rä­dern aus­ge­rüs­tet war.

Der erste derart ge­plan­te Über­fall galt ei­nem Geld­bo­ten, der ei­nen grö­ße­ren Be­trag bei ei­ner Bank ab­lie­fern soll­te. Er kam al­lei­ne mit der Stra­ßen­bahn (!) und wur­de, nach­dem er sie ver­las­sen hat­te, von ei­nem Kom­pli­zen Bon­nots mit ei­ner Pis­to­le ge­zwun­gen, das Geld zu über­ge­ben. Es kam zu ei­nem Kampf, bei dem der Geld­bo­te schwer ver­letzt wur­de, die Beu­te war bei wei­tem nicht so groß wie er­hofft, der ers­te Über­fall (es war der ers­te welt­weit, der mo­to­ri­siert aus­ge­führt wor­den war) war ein Miss­er­folg.

Von da an wuchs der Fahn­dungs­druck ge­gen die in­zwi­schen als Bon­not-Ban­de be­zeich­ne­te Grup­pe, die al­ler­dings wei­te­re Über­fäl­le be­ging, bei de­nen meh­re­re Men­schen zu To­de ka­men.

Die Gruppe trenn­te sich, ei­ni­ge Mit­glie­der wur­den fest­ge­nom­men, Jules Bon­not, Oc­tave Gar­nier und René Va­let wur­den er­schos­sen, als sie sich ih­rer Fest­nah­me wi­der­setz­ten.

Im anschließenden Pro­zess ge­gen 21 Be­schul­dig­te wur­de we­gen Mor­des, ver­such­ten Mor­des und Dieb­stahls ver­han­delt. Es wur­den schließ­lich 4 To­des­ur­tei­le ver­hängt, meh­re­re An­ge­klag­te wur­den zu le­bens­läng­li­cher Zwangs­ar­beit ver­ur­teilt, an­de­re zu Ge­fäng­nis­stra­fen mit an­schlie­ßen­der Aus­wei­sung.

Richard Parry schil­dert de­tail­liert die Vor­ge­schich­te der Pro­ta­go­nis­ten, die ge­sell­schaft­li­che Si­tua­tion, in der sich Frank­reich zu Be­ginn des 20. Jahr­hun­derts be­fand und wirft ein Bild auf die Ge­gen­sät­ze in­ner­halb der Ar­bei­ter­be­we­gung, die sich auch in den Krei­sen der Anar­chis­ten be­merk­bar mach­ten. Die Il­le­ga­lis­ten stan­den in der Kri­tik, da sie die lau­te­ren Mo­ti­ve des Anar­chis­mus in den Schmutz ge­zo­gen hät­ten, von Ge­werk­schafts­sei­te wur­de ih­nen so­gar vor­ge­wor­fen, Teil des Sys­tems zu sein, da ihre Ak­tio­nen zu ei­ner mas­si­ven staat­li­chen Re­pres­sion ge­führt hat­te, die sich – wie im­mer in ähn­li­chen Si­tua­tio­nen – ge­gen die ge­sam­te ra­di­ka­le Op­po­si­tion ge­rich­tet hätte.

Parry bezieht sich in sei­nen Aus­füh­run­gen auf schrift­li­che Hin­ter­las­sen­schaf­ten di­rekt Be­tei­lig­ter, Po­li­zei­ak­ten so­wie zeit­ge­nös­si­scher Be­richt­er­stat­tung. Wei­te­re his­to­ri­sche Quel­len ord­nen das Ge­sche­hen his­to­risch-po­li­tisch ein. Der Text zer­fa­sert sich ge­le­gent­lich in Ne­ben­strän­ge, de­ren Be­deu­tung für das The­ma nicht er­kenn­bar wird, und die Über­set­zung ist schwer­fäl­lig. Den­noch eine in­te­res­san­te Un­ter­su­chung ei­nes so­zia­len Kon­flikt­stoffs im Frank­reich des frü­hen 20. Jahr­hun­derts.

Das vierseitige Li­te­ra­tur­ver­zeich­nis lis­tet nur eng­lisch- und fran­zö­sisch­spra­chi­ge Ti­tel auf, ob­wohl ei­ni­ge auch in deut­scher Über­set­zung er­schie­nen sind.


Anarchismus

7. Dezember 2024

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