Kassiber | |||||
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Richard Parry Das Frankreich des beginnenden 20. Jahrhunderts war gekennzeichnet durch eine starke Verarmung der unteren Gesellschaftsschichten. Arbeiter und Arbeitslose waren der Willkür der Bourgeoisie ausgeliefert, häufig aufflackernde Streiks und Proteste wurden mit äußerster Brutalität niedergeschlagen. Innerhalb der Arbeiterbewegung gab es unterschiedliche Fraktionen, deren Ziele und Methoden nicht miteinander vereinbar waren. Die größte Gewerkschaft CGT (Confédération générale du travail) geriet zunehmend unter den Einfluss reformistischer Kräfte, von denen sich radikalere Gruppen nicht repräsentiert sahen. Eine dieser Gruppen waren die Anarchisten, die aber wiederum keine einheitliche Position vertraten. Während die Syndikalisten die Organisation der Arbeiter in Gewerkschaften befürworteten, wenn auch mit einem erheblich radikaleren Ansatz, als es in der CGT durchzusetzen war, hingen nicht wenige individualanarchistischen Vorstellungen an. Ihnen stand die Freiheit des Einzelnen über der des Kollektivs, die Revolte im Hier und Jetzt entsprach eher ihrem Impetus als die langfristige Arbeit in Organisationen jedweder Art. Große Teile dieser Szene lebten vegetarisch und waren Anhänger der Theorien Max Stirners, man lehnte den Genuss von Tabak, Kaffee und Alkohol ab, lebte in kommuneähnlichen Gemeinschaften oder zog alleine oder in kleinen Gruppen durchs Land. Langfristige Arbeitsverhältnisse waren in diesem Milieu eher selten, der Mangel an allem die Regel. Vor diesem Hintergrund bildeten sich kleine Gruppen in wechselnder Besetzung, die später als Illegalisten bezeichnet wurden. Sie begingen Diebstähle, Fälschungen von Münzen, betrieben Handel mit Hehlerware u.ä., um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Sie verstanden das als revolutionäre Aktionen, als Enteignung unrechtmäßig angeeigneten Eigentums im Sinne Proudhons: Eigentum ist Diebstahl! Kontakte zu kriminellen Kreisen waren nicht zu vermeiden, nicht selten sogar erwünscht, um Waffen erwerben zu können und das Diebesgut zu veräußern. Jules Bonnot (1876-1912), der wegen seiner politischen Aktivitäten mehrmals seine Arbeit verloren hatte, hatte Erfahrungen als Mechaniker und in einer Automobilfabrik gesammelt, sodass er, nach einer erneuten Entlassung wegen aufrührerischer Reden, auf die Idee kam, sich einer dieser illegalistischen Gruppen anzuschließen, um mit gestohlenen Automobilen Überfälle durchzuführen, die die Fluchtmöglichkeiten erheblich verbesserten, da die Polizei überwiegend noch mit Fahrrädern ausgerüstet war. Der erste derart geplante Überfall galt einem Geldboten, der einen größeren Betrag bei einer Bank abliefern sollte. Er kam alleine mit der Straßenbahn (!) und wurde, nachdem er sie verlassen hatte, von einem Komplizen Bonnots mit einer Pistole gezwungen, das Geld zu übergeben. Es kam zu einem Kampf, bei dem der Geldbote schwer verletzt wurde, die Beute war bei weitem nicht so groß wie erhofft, der erste Überfall (es war der erste weltweit, der motorisiert ausgeführt worden war) war ein Misserfolg. Von da an wuchs der Fahndungsdruck gegen die inzwischen als Bonnot-Bande bezeichnete Gruppe, die allerdings weitere Überfälle beging, bei denen mehrere Menschen zu Tode kamen. Die Gruppe trennte sich, einige Mitglieder wurden festgenommen, Jules Bonnot, Octave Garnier und René Valet wurden erschossen, als sie sich ihrer Festnahme widersetzten. Im anschließenden Prozess gegen 21 Beschuldigte wurde wegen Mordes, versuchten Mordes und Diebstahls verhandelt. Es wurden schließlich 4 Todesurteile verhängt, mehrere Angeklagte wurden zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt, andere zu Gefängnisstrafen mit anschließender Ausweisung. Richard Parry schildert detailliert die Vorgeschichte der Protagonisten, die gesellschaftliche Situation, in der sich Frankreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts befand und wirft ein Bild auf die Gegensätze innerhalb der Arbeiterbewegung, die sich auch in den Kreisen der Anarchisten bemerkbar machten. Die Illegalisten standen in der Kritik, da sie die lauteren Motive des Anarchismus in den Schmutz gezogen hätten, von Gewerkschaftsseite wurde ihnen sogar vorgeworfen, Teil des Systems zu sein, da ihre Aktionen zu einer massiven staatlichen Repression geführt hatte, die sich – wie immer in ähnlichen Situationen – gegen die gesamte radikale Opposition gerichtet hätte. Parry bezieht sich in seinen Ausführungen auf schriftliche Hinterlassenschaften direkt Beteiligter, Polizeiakten sowie zeitgenössischer Berichterstattung. Weitere historische Quellen ordnen das Geschehen historisch-politisch ein. Der Text zerfasert sich gelegentlich in Nebenstränge, deren Bedeutung für das Thema nicht erkennbar wird, und die Übersetzung ist schwerfällig. Dennoch eine interessante Untersuchung eines sozialen Konfliktstoffs im Frankreich des frühen 20. Jahrhunderts. Das vierseitige Literaturverzeichnis listet nur englisch- und französischsprachige Titel auf, obwohl einige auch in deutscher Übersetzung erschienen sind. 7. Dezember 2024 |
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