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Maurice Pinguet Der Freitod in Japan wird bei uns vor allem mit dem Kamikaze japanischer Piloten während des Zweiten Weltkriegs und dem rituellen Harakiri (Seppuku) der Samuraikrieger assoziiert. Doch der freiwillige Tod hat eine lange Tradition in Japan und ist tief in den kulturellen Wandlungen der japanischen Gesellschaft verwurzelt. Pinguet verfolgt und analysiert diese Spuren, wobei er den Suizid immer nur als Symptom des grundlegenden Verhältnisses zwischen Staat/Gesellschaft/Herrscher einerseits und dem Individuum andererseits versteht, dessen wesentliche Säulen die Haltung zu Ehre und Opferbereitschaft darstellen. So haben sich zwar die Formen des Freitods und seine Häufigkeit durch die Jahrhunderte immer wieder gewandelt, nicht zuletzt durch die Einflüsse des Buddhismus und des Konfuzianismus. Grundlegend geblieben ist dagegen ein hohes Gefühl der Verantwortung, das der Einzelne dem Gemeinschaftswesen gegenüber hat. Versagen, Ehrverlust, Loyalität, Niederlage oder Eingeständnis von Schuld können Auslöser für einzelne oder in Gruppen begangene Freitode sein, die in der Regel auf den Respekt der Umwelt stoßen. Freitode müssen nicht immer so freiwillig gewesen sein, wie es den Anschein hat. Auch aus Gruppendruck, gesellschaftlichen Erwartungen oder als Alternative zur Todesstrafe ausgeführt, wurden und werden Suizide begangen; auch hier spielt nicht selten die Frage der Ehre oder die Lösung eines Konflikts durch die Opferung des eigenen Lebens eine entscheidende Rolle. Mit der Entstehung der Kriegerkaste der Samurai entwickelt sich eine sehr spezifische Form des Freitods: Seppuku (auch als Harakiri bekannt). Diese Form des Freitods ist an strenge Rituale gebunden, sowohl in der Ausführung als auch in der Vorbereitung. Der Autor Yukio Mishima beschreibt dies sehr detailliert in seiner Erzählung "Patriotismus" und beging einige Jahre später selbst Seppuku, nachdem er in einer Rede an einige tausend Soldaten eine Besinnung auf die traditionellen Werte der japanischen Gesellschaft gefordert hatte und auf Unverständnis gestoßen war. Seinem Leben und Werk ist das letzte Kapitel des Buches gewidmet. Der Zweite Weltkrieg und die drohende Niederlage Japans führte zu einer speziellen Form des Freitods, dem Kamikaze, bei dem sich japanische Piloten mit ihren mit Sprengstoff beladenen Kleinstflugzeugen in US-amerikanische Flugzeugträger stürzten. Die auch dadurch nicht aufzuhaltende Niederlage Japans löste dann eine größere Welle von Suiziden aus, die allerdings nur in den seltensten Fällen noch den Anforderungen des traditionellen Seppuku entsprachen, meist bediente man sich einer Schusswaffe oder stürzte sich umstandslos in ein Schwert. Pinguet analysiert die kulturellen und historischen Entwicklungen Japans durch die Jahrhunderte und welchen Einfluss sie jeweils auf das Selbstverständnis der Menschen hatten, die sich – aus welchen Gründen auch immer – zu einem Freitod genötigt sahen. Das wirkt auf westliche Leser nicht selten bizarr, und die Beschreibung der unterschiedlichen Praktiken, insbesondere die des Bauchaufschlitzens, den Tod herbeizuführen, bedarf einer gewissen Überwindung. Dennoch eine interessante, wenn auch aufwühlende Lektüre, die mit einem umfangreichen Glossar den Lesern eine wertvolle Hilfestellung bei dem teilweise doch sehr speziellen Vokabular bietet. 12. November 2024 |
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