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Léon Poliakov "Der arische Mythos", 1971 in französischer Sprache erstmals erschienen, sucht die Wurzeln von Rassismus und Nationalismus in den Genealogien und Mythen der Völker und Nationen Europas. "Völkerwanderung" und Christianisierung führten zu strukturellen Veränderungen im Selbstverständnis der Eliten, die Herausbildung ethnischer Identitäten mit der Folge von Abgrenzung und Ausgrenzung des Fremden diente zugleich als Gegenbild, Projektionsfläche und Bestätigung eigener Überlegenheit. Im 1. Teil des Buches untersucht Poliakov die Spuren germanischer Einflüsse in europäischen Herrscherhäusern, die bis in die Zeit der Völkerwanderung zurück reichen und die, verstärkt durch den Einfluss christlicher Abstammungsmythen, Grundlage bilden für eine starke gesellschaftliche Hierarchisierung, die zu Vorstellungen von Minderwertigkeit führt. Im 2. Teil des Buches widmet sich Poliakov dem "wissenschaftlichen" Diskurs, in dem, vor allem seit dem 18. Jahrhundert, Modelle entstehen, die solchen Vorstellungen von Überlegenheit und Minderwertigkeit eine objektive Grundlage bereiten wollen. Der Sklavenhandel und seine Legitimation durch kirchliche Autoritäten spielt dabei eine wesentliche Rolle. Bis in der Reihen der Aufklärer reicht Vokabular und Denkweise des Rassismus, Poliakov führt dafür zahlreiche Belege an. Aus diesem Milieu entwickelte sich im 19. Jahrhundert die Diskussion um das Wesen und die Herkunft der Arier. Heute grotesk anmutende Debatten darüber ob Adam deutsch oder hebräisch gesprochen hat (die Frage nach der gemeinsamen "Ursprache" der Menschheit sollte damit beantwortet werden), fanden ebenso statt wie verwickelte Argumentationen, dass Jesus ein Arier und eben kein Jude gewesen sein muss. Dass in Deutschland der Rassismus seine besondere Ausformung im Antisemitismus gefunden hat, führt Poliakov auch auf die unter französischer Herrschaft eingeführte Emanzipation der Juden zurück, die die bis dahin vor allem religiös begründete Diskriminierung der Juden auf ein neues Niveau hob. Parallel dazu, und eng verknüpft mit der Frage des Ariertums, entwickelte sich die Vorstellung der Juden als minderwertige Rasse, der prominente Zeitgenossen nicht nur folgten, sondern sie – Beispiel Richard Wagner – offensiv propagierten. Nationalsozialistische Propaganda bediente sich großzügig aus diesem Fundus rassistischer und antisemitischer Modelle und trieb sie auf die Spitze. Die Fülle des Materials aus den unterschiedlichsten Bereichen, die Poliakov zur Untermauerung seiner Thesen aufführt, ist immens und beeindruckend. Matthias Heyl zieht daraus in seinem Vorwort den folgenden Schluss: "Auschwitz ist demnach die absolute Zuspitzung dessen, was seinen Ursprung in dem Fundament europäischer, auch und gerade moderner Kultur selbst hat." (S. 9) Ist das eine Relativierung der Verantwortung, die Deutsche für die industrielle Vernichtung jüdischen Lebens haben? Heyl schließt deshalb an: "Betont sei jedoch, daß damit die Tatsache, daß Auschwitz von Deutschen ausging, keineswegs ignoriert oder nivelliert wird." Léon Poliakov (1910 – 1997), geboren in St. Petersburg, gestorben in Frankreich, widmete den Großteil seiner publizistischen Tätigkeit der Erforschung des Antisemitismus. Beispielhaft dafür ist die 8-bändige "Geschichte des Antisemitismus", die Poliakov in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts veröffentlichte. Weitere Spezialuntersuchungen – zum Teil mit Coautoren verfasst – beschäftigen sich mit der Judenverfolgung im Dritten Reich und anderen Aspekten des Rassismus. ---------------------------- 5. März 2024 |
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