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Christoph Ransmayr Die Schrecken des Eises und der Finsternis Christoph Ransmayr
Die Schrecken des Ei­ses und der Fins­ter­nis. Roman.
Fischer Taschenbuch Ver­lag 2001, 277 Sei­ten
ISBN 3-596-25419-1

Die Suche nach einer Um­schif­fung Europas auf der nörd­li­chen Seite des Kon­ti­nents hat eine lan­ge Tradition, ers­te Ver­su­che reichen zu­rück bis ins 16. Jahr­hun­dert. Man ver­sprach sich ei­ne we­sent­li­che Ver­kür­zung der Rei­se­zeit auf der Fahrt nach Asien und in den Pa­zi­fik. Ne­ben mer­kan­ti­len In­te­res­sen spiel­ten aber auch wis­sen­schaft­li­che Fra­gen eine Rolle, die durch die 1872 aus­ge­rüs­te­te Österreichisch-Un­ga­ri­sche Nord­po­lar­ex­pe­di­tion ge­klärt wer­den sollten.

Carl Weyprecht und Ju­lius Payer führten die Ex­pe­di­tion an; der Erste zu­stän­dig für das Schiff und die Er­he­bung wis­sen­schaft­li­cher Daten über das Po­lar­meer, der Zwei­te soll­te das Kom­man­do auf dem Fest­land inne haben, man hoff­te auf die Ent­de­ckung neuer Länder, die es zu er­for­schen und zu ver­mes­sen galt.

Die 24-köpfinge Be­sat­zung war mit Männern aus der Ös­ter­rei­chisch-Un­ga­ri­schen Mo­nar­chie zu­sam­men­ge­stellt. Zu ihr ge­hör­ten neben Ma­tro­sen auch Ge­birgs­jä­ger sowie ein Hun­de­füh­rer. Vor der Ab­fahrt hin­ter­leg­te man eine von den Of­fi­zie­ren des Schif­fes un­ter­zeich­ne­te Ver­zichts­er­klä­rung; für den Fall eines Schiff­bruchs sollten keinerlei Ret­tungs- und Such­ex­pe­di­tio­nen aus­ge­schickt wer­den. Man kä­me aus ei­ge­ner Kraft wie­der zu­rück oder gar nicht.

Im Juli 1872 setzte man die Se­gel der Admiral Te­gett­hoff, ein Drei­mas­ter mit zu­sätz­li­chem Dampf­an­trieb, und ver­ließ den norwegischen Ha­fen Trom­so. Schon ei­nen Monat spä­ter saß man im Packeis fest und hatte die Kontrolle über das Schiff weit­ge­hend ver­lo­ren. Eis­mas­sen drückten ge­gen das Schiff und bäum­ten sich zu haushohen Wän­den auf, die eine stetige Ge­fahr für Schiff und Mann­schaft be­deu­te­ten. Man war der Drift aus­ge­lie­fert, die Tem­pe­ra­tu­ren san­ken zeitweise bis ge­gen minus 50° Cel­sius, die mo­na­te­lan­gen Win­ter­näch­te zer­mürb­ten die Moral der Mann­schaft [1].

Auf einer Eisscholle trei­bend, die sich unter das Schiff ge­scho­ben hatte, ent­deck­te man ei­nen Ar­chi­pel, den sie nach Kai­ser Franz Josef be­nann­ten und den ein Teil der Mann­schaft un­ter Julius Payer und größ­ten Strapazen er­kun­de­te und kartierte. Da­bei über­schrit­ten sie den 81. Brei­ten­grad, was zu dieser Zeit einen Re­kord darstellte.

Schmelzendes Eis zwang sie zur Rückkehr zur Ad­mi­ral Te­gett­hoff, wo Kapitän Wey­precht we­nig spä­ter den Ent­schluss fasste, das Schiff auf­zu­ge­ben, da die Vorräte für ei­nen wei­te­ren Winter im Po­lar­eis nicht ausreichen wür­den [2]. Die 6 Bei­boo­te wur­den mit dem Nö­tigs­ten be­la­den und von den Ma­tro­sen über die unwegsame und un­be­re­chen­ba­re Eis­land­schaft ge­zo­gen. Nach 3 Mo­na­ten nahm sie ein rus­si­scher Fi­sche­rei­scho­ner auf, 847 Ta­ge nach ihrem Auf­bruch er­reich­ten sie schließ­lich Wien.

Der Erzähler begibt sich auf die Spu­ren des fik­ti­ven Jo­seph Mazzini, der hun­dert Jah­re nach der Ex­pe­di­tion, an der einer sei­ner Vorfahren als Ma­tro­se teilgenommen hat­te, die Reise nach­voll­zie­hen will und sich in den Weiten der Po­lar­nacht ver­liert.

Der Text birgt eine Fülle von Zi­ta­ten aus Ta­ge­bü­chern und Er­in­ne­run­gen der Ex­pe­di­tions­teil­neh­mer, die in die li­te­ra­ri­sier­te Beschreibung der Er­eig­nis­se ein­ge­floch­ten wer­den. Exkurse zu frü­he­ren und spä­te­ren Ver­su­chen, die nörd­li­che Po­lar­re­gion zu er­for­schen, vertiefen die Tra­gik und Dra­ma­tik sol­cher Un­ter­neh­mun­gen. Maz­zi­nis Al­lein­gang erscheint da­ge­gen wie nai­ves Aben­teu­rer­tum ei­ner ver­(w)irr­ten See­le.

"Die Schrecken des Ei­ses und der Finsternis" ist die ers­te ei­gen­stän­di­ge Buch­pu­bli­ka­tion von Chris­toph Rans­mayr. Ei­ne fas­zi­nie­ren­de Lektüre.

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1. Nicht nur eine 400-bän­di­ge Bord­bi­blio­thek sollte "ge­gen die End­lo­sig­keit der Zeit und die Schwer­mut" (S. 141) helfen, Ju­lius Payer veranlasste die Mann­schaft auch, eine drei Mei­len lan­ge Kunststraße an­zu­le­gen. "Ei­ner Straße, die über Viadukte und durch Tunnels führt, ..., die öster­rei­chi­sche Namen tra­gen, und vorüber an Post­sta­tio­nen, Tem­peln, Sta­tuen und Schenken aus Eis." (S. 154)

2. "Zum Entschluß für den ex­trems­ten Fall hatten sich die Of­fi­zie­re der Admiral Te­gett­hoff noch an Bord ge­mein­sam bekannt: Wenn auch der Rückzug nur in die Hoff­nungs­lo­sig­keit führen soll­te, wenn die Le­bens­mit­tel auf­ge­zehrt und alle Kräfte erschöpft sei­en, werde man Hand an sich le­gen und auch der Mann­schaft den Selbst­mord raten." (S. 252)

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28. Januar 2024

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