Kassiber | |||||
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Christoph Ransmayr Die Suche nach einer Umschiffung Europas auf der nördlichen Seite des Kontinents hat eine lange Tradition, erste Versuche reichen zurück bis ins 16. Jahrhundert. Man versprach sich eine wesentliche Verkürzung der Reisezeit auf der Fahrt nach Asien und in den Pazifik. Neben merkantilen Interessen spielten aber auch wissenschaftliche Fragen eine Rolle, die durch die 1872 ausgerüstete Österreichisch-Ungarische Nordpolarexpedition geklärt werden sollten. Carl Weyprecht und Julius Payer führten die Expedition an; der Erste zuständig für das Schiff und die Erhebung wissenschaftlicher Daten über das Polarmeer, der Zweite sollte das Kommando auf dem Festland inne haben, man hoffte auf die Entdeckung neuer Länder, die es zu erforschen und zu vermessen galt. Die 24-köpfinge Besatzung war mit Männern aus der Österreichisch-Ungarischen Monarchie zusammengestellt. Zu ihr gehörten neben Matrosen auch Gebirgsjäger sowie ein Hundeführer. Vor der Abfahrt hinterlegte man eine von den Offizieren des Schiffes unterzeichnete Verzichtserklärung; für den Fall eines Schiffbruchs sollten keinerlei Rettungs- und Suchexpeditionen ausgeschickt werden. Man käme aus eigener Kraft wieder zurück oder gar nicht. Im Juli 1872 setzte man die Segel der Admiral Tegetthoff, ein Dreimaster mit zusätzlichem Dampfantrieb, und verließ den norwegischen Hafen Tromso. Schon einen Monat später saß man im Packeis fest und hatte die Kontrolle über das Schiff weitgehend verloren. Eismassen drückten gegen das Schiff und bäumten sich zu haushohen Wänden auf, die eine stetige Gefahr für Schiff und Mannschaft bedeuteten. Man war der Drift ausgeliefert, die Temperaturen sanken zeitweise bis gegen minus 50° Celsius, die monatelangen Winternächte zermürbten die Moral der Mannschaft [1]. Auf einer Eisscholle treibend, die sich unter das Schiff geschoben hatte, entdeckte man einen Archipel, den sie nach Kaiser Franz Josef benannten und den ein Teil der Mannschaft unter Julius Payer und größten Strapazen erkundete und kartierte. Dabei überschritten sie den 81. Breitengrad, was zu dieser Zeit einen Rekord darstellte. Schmelzendes Eis zwang sie zur Rückkehr zur Admiral Tegetthoff, wo Kapitän Weyprecht wenig später den Entschluss fasste, das Schiff aufzugeben, da die Vorräte für einen weiteren Winter im Polareis nicht ausreichen würden [2]. Die 6 Beiboote wurden mit dem Nötigsten beladen und von den Matrosen über die unwegsame und unberechenbare Eislandschaft gezogen. Nach 3 Monaten nahm sie ein russischer Fischereischoner auf, 847 Tage nach ihrem Aufbruch erreichten sie schließlich Wien. Der Erzähler begibt sich auf die Spuren des fiktiven Joseph Mazzini, der hundert Jahre nach der Expedition, an der einer seiner Vorfahren als Matrose teilgenommen hatte, die Reise nachvollziehen will und sich in den Weiten der Polarnacht verliert. Der Text birgt eine Fülle von Zitaten aus Tagebüchern und Erinnerungen der Expeditionsteilnehmer, die in die literarisierte Beschreibung der Ereignisse eingeflochten werden. Exkurse zu früheren und späteren Versuchen, die nördliche Polarregion zu erforschen, vertiefen die Tragik und Dramatik solcher Unternehmungen. Mazzinis Alleingang erscheint dagegen wie naives Abenteurertum einer ver(w)irrten Seele. "Die Schrecken des Eises und der Finsternis" ist die erste eigenständige Buchpublikation von Christoph Ransmayr. Eine faszinierende Lektüre. ---------------------------- 1. Nicht nur eine 400-bändige Bordbibliothek sollte "gegen die Endlosigkeit der Zeit und die Schwermut" (S. 141) helfen, Julius Payer veranlasste die Mannschaft auch, eine drei Meilen lange Kunststraße anzulegen. "Einer Straße, die über Viadukte und durch Tunnels führt, ..., die österreichische Namen tragen, und vorüber an Poststationen, Tempeln, Statuen und Schenken aus Eis." (S. 154) 2. "Zum Entschluß für den extremsten Fall hatten sich die Offiziere der Admiral Tegetthoff noch an Bord gemeinsam bekannt: Wenn auch der Rückzug nur in die Hoffnungslosigkeit führen sollte, wenn die Lebensmittel aufgezehrt und alle Kräfte erschöpft seien, werde man Hand an sich legen und auch der Mannschaft den Selbstmord raten." (S. 252) ---------------------------- 28. Januar 2024 → Reisen |
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