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Autoren Glossen Lyrik

philip roth nemesis Philip Roth
Nemesis. Roman.
Aus dem Ame­ri­ka­ni­schen von Dirk van Gunsteren.
Carl Hanser Verlag 2011, 218 Sei­ten, ISBN 978-3-446-23642-4

Eugene "Bucky" Cantor ist ein 23-jäh­ri­ger Sport­leh­rer im jü­di­schen Vier­tel von Ne­wark und be­auf­sich­tigt in den Som­mer­fe­rien 1944 Ju­gend­li­che auf ei­nem Sport­platz. Sei­ne Freun­de kämp­fen in Eu­ro­pa ge­gen den Fa­schis­mus, Bucky wur­de we­gen ei­ner Seh­schwä­che und sei­ner zu ge­rin­gen Kör­per­grö­ße für un­taug­lich er­klärt. Er sieht sich als Kämp­fer an der Hei­mat­front und ver­sucht sich da­mit zu trös­ten, denn dass er nicht mehr für sein Land tun kann in die­sem Krieg, las­tet schwer auf ihm.

Währenddessen bricht eine Po­lio­e­pi­de­mie in Ne­wark aus und for­dert ers­te Op­fer. We­der ist be­kannt, wie sich die Seu­che ver­brei­tet, noch kennt man ein Mit­tel da­ge­gen. Pa­nik und Miss­trau­en ma­chen sich breit, be­son­ders als es zu ers­ten To­des­fäl­len kommt. Bucky ver­sucht so­wohl mit Ver­ständ­nis und Mit­ge­fühl für die Op­fer und ihre An­ge­hö­ri­gen als auch mit Ver­nunft und Fürsorge, die Auf­re­gung nicht es­ka­lie­ren zu las­sen.

Buckys Freundin Mar­cia ar­bei­tet in ei­nem Fe­rien­la­ger in den Po­co­nos und drängt ihn, die Stel­le ei­nes Ba­de­meis­ters dort an­zu­neh­men, die ge­ra­de erst frei ge­wor­den ist. Weit­ab von den Ri­si­ken der Epi­de­mie und der sich aus­brei­ten­den Pa­ra­noia in Ne­wark, könn­te er wie­der mit Ju­gend­li­chen ar­bei­ten und sei­ner zu­künf­ti­gen Ver­lob­ten nah sein. Nach ei­nem Ge­spräch mit Mar­cias Va­ter, der ihre Plä­ne un­ter­stützt, und nach Nie­der­rin­gen der ei­ge­nen Ge­wis­sens­kon­flik­te, sagt Bucky zu und nimmt die Stel­le an.

Die beiden Ver­lieb­ten er­le­ben eine glückliche Zeit und Bucky fin­det gu­ten Kon­takt zu den Ju­gend­li­chen und ei­nem ih­rer Be­treu­er. Doch aus Ne­wark drin­gen schlech­te Nach­rich­ten zu ihm durch. Po­lio brei­tet sich wei­ter aus, die Zahl der To­des­fäl­le steigt, unter ih­nen auch im­mer mehr Ju­gend­li­che, die Bucky auf den Sport­plät­zen be­treut hat. Bucky fühlt sich als Fah­nen­flüch­ti­ger, der sei­nes ei­ge­nen Glücks we­gen die ihm An­ver­trau­ten im Stich ge­las­sen hat.

Und dann zeigt Do­nald, der Be­treu­er der Ju­gend­li­chen, mit dem Bucky in­zwi­schen eine enge Freund­schaft ver­bin­det, Symp­to­me, die eben­falls auf eine In­fek­tion mit dem Po­lio­vi­rus hin­deu­ten. Die Seu­che hat das Camp er­reicht, und Bucky fürch­tet, dass er selbst der Über­trä­ger ge­we­sen sein könn­te. Er lässt sich un­ter­su­chen und der Ver­dacht bestätigt sich; ob­wohl er ohne Symp­to­me ge­we­sen ist, trägt er das Vi­rus in sich.

1971 begegnet Ar­nold ("Ar­nie") Mes­ni­koff, ei­ner der Jungs, über die Bucky 1944 die Auf­sicht hat­te, dem stark ein­ge­schränk­ten Bucky Can­tor. Ar­nie, der auch ei­ner der ers­ten In­fi­zier­ten un­ter den jü­di­schen Ju­gend­li­chen ge­we­sen ist, gibt das Ge­spräch wie­der, das er mit Bucky ge­führt hat. Der be­rich­tet vom Aus­bruch der Krank­heit bei ihm, der Odys­see durch meh­re­re Kran­ken­häu­ser und Re­ha­bi­li­ta­tions­zent­ren, aber vor al­lem schil­dert er sein al­les über­schat­ten­des Ge­fühl von Schuld, das auch zum Ende der Be­zie­hung zu Mar­cia ge­führt hat. Die wei­ter zu ihm stand, die auf die Hei­rat dräng­te und von Bucky doch im­mer wie­der aufs Gröbs­te zu­rück­ge­wie­sen wur­de.

Der Roman ist in Form ei­nes Trip­ty­chons struk­tu­riert. Der ers­te Teil gleicht ei­nem Hel­den­epos, das durch die Au­gen von Ar­nie wahr­ge­nom­men wur­de, Bucky die Sports­ka­no­ne, Bucky der Fels in der Bran­dung der zu­neh­men­den Pa­ra­noia und Bucky, der sich mu­tig den ita­lie­ni­schen Ju­gend­li­chen in den Weg stellt, die auf pro­vo­kan­te Wei­se den Po­lio­er­re­ger in das bis da­hin da­von ver­schon­te jü­di­sche Vier­tel tra­gen wol­len.

Der zweite Teil stellt die Zu­spit­zung der Kon­flik­te dar, in de­nen sich Bucky be­wegt, von de­nen er hin- und her­ge­ris­sen wird. Kann er sein per­sön­li­ches Glück über die Ver­ant­wor­tung stel­len, die er ge­gen­über den ihm an­ver­trau­ten Ju­gend­li­chen hat? Das Schick­sal, die Ra­che­göt­tin Ne­me­sis, nimmt ihm ei­nen Teil der Ver­ant­wor­tung ab, in­dem auch bei ihm die Krank­heit aus­bricht.

Der dritte Teil setzt all dies in ein Verhältnis zu­ei­nan­der und the­ma­ti­siert die ver­schie­de­nen He­ran­ge­hens­wei­sen der Pro­ta­go­nis­ten an ihre in­di­vi­duel­len Tra­gö­dien. Alle ethi­schen und re­li­giö­sen Fra­gen, die von An­fang an den Ro­man durch­zie­hen, wer­den in die­sem Teil durch die An­ti­po­den Ar­nie und Bucky auf­ge­wor­fen und un­ter­schied­lich, ja ge­gen­sätz­lich be­ant­wor­tet. Wäh­rend Bucky im Schlund seiner (ver­meint­li­chen) Schuld ver­sinkt, sich selbst und Gott (an den er ei­gent­lich nicht glaubt) an­klagt und jede Form der Er­leich­te­rung sei­nes Le­bens ka­te­go­risch ab­lehnt, hat sich Ar­nie den He­raus­for­de­run­gen sei­ner Er­kran­kung ge­stellt und sich ein be­ruf­lich be­frie­di­gen­des und pri­vat glück­li­ches Le­ben auf­ge­baut.

Nemesis ist Phi­lip Roths letz­ter Ro­man. Er starb 8 Jah­re nach des­sen Ver­öf­fent­li­chung.


14. Januar 2025

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