Kassiber leer
Autoren Glossen Lyrik

Oliver Sacks: Die Insel der Farbenblinden Oliver Sacks
Die Insel der Far­ben­blin­den.
Die Insel der Palm­farne.
Rowohlt 1997, 352 Seiten, einige Abbil­dungen und Kar­ten
ISBN 3 498 06320 0

Der inzwischen ver­stor­be­ne Neu­ro­lo­ge Oli­ver Sacks (be­kannt ge­wor­den durch sei­nen Best­sel­ler "Der Mann, der sei­ne Frau mit ei­nem Hut ver­wech­sel­te") inte­res­siert sich seit sei­ner Kind­heit für Pflan­zen, die es schon vor Jahr­mil­lio­nen ge­ge­ben hat. In "Die In­sel der Far­ben­blin­den" be­schreibt er zwei Rei­sen nach Mi­kro­ne­sien, auf de­nen er das In­te­res­se an dort auf­tre­ten­den neu­ro­lo­gi­schen Er­kran­kun­gen ver­knüpft mit der Er­kun­dung der exo­ti­schen Flo­ra, die er dort vor­fin­det.

Der erste Teil be­han­delt die Rei­se nach Pin­ge­lap und Pohn­pei, auf die­sen In­seln gibt es die höchs­te Kon­zen­tra­tion von Far­ben­blind­heit (Achro­ma­top­sie) welt­weit. Be­glei­tet wird er un­ter an­de­rem von ei­nem nor­we­gi­schen Wis­sen­schaft­ler, der selbst far­ben­blind ist. Sacks be­schäf­tigt die Fra­ge, in­wie­weit sich die Wahr­neh­mung der Welt ver­än­dert durch das völ­li­ge Feh­len von Far­ben. Dass es sich nicht nur um das Se­hen wie in ei­nem Schwarz­weißfilm han­delt, son­dern wei­te­re, tief­grei­fen­de Kon­se­quen­zen hat, wird ihm im Lauf der Rei­se im­mer kla­rer. Auch die Grün­de für die ho­he Kon­zen­tra­tion der Krank­heit wer­den trans­pa­ren­ter. Die­ser Teil des Bu­ches ist wie ei­ne Re­por­ta­ge, teils wie eine Rei­se­be­schrei­bung ge­schrie­ben, ver­setzt mit me­di­zi­ni­schen und phy­sio­lo­gi­schen Er­läu­te­run­gen zur Far­ben­blind­heit.

PalmfarnDer zweite Teil, die Rei­se nach Guam und Rota, ist da­ge­gen in ei­nem deutlich wis­sen­schaft­licheren Stil ge­hal­ten. Dort tritt eine neu­ro­lo­gi­sche Krank­heit auf (Ly­ti­co-Bo­dig), deren Ur­sprung noch un­ge­klärt ist und deren Symp­to­me un­ter­schied­li­cher Art sein können. Be­schrie­ben wer­den die Ver­su­che, die Ur­sa­chen der Er­kran­kung zu fin­den, die viele im Ver­zehr ei­nes aus den Sa­men von Baum­far­nen her­ge­stell­ten Mehls se­hen. Die­se Baum­far­ne (Cya­thea­les) rei­chen bis ins Erd­zeit­al­ters des Ju­ra zu­rück – es sind lebende Fos­si­lien – und tref­fen da­mit auf das be­son­de­re Interesse Sacks'. Ent­spre­chend aus­führ­­lich wird die Bo­tanik dieser Spe­zies be­han­delt.

Sacks betont im Vorwort des Buches, dass er die Tex­te in ei­nem Stück verfasst hat, sie aber später um den um­fang­rei­chen Fuß­noten­apparat [1] er­wei­tert hat. Dieser An­mer­kungs­teil sowie eine um­fang­rei­che Lite­ra­tur­liste und ein aus­führ­li­ches Re­gis­ter um­fas­sen ein knappes Drittel des Buches und ber­gen eine Fülle an Reflexionen, Ab­schwei­fun­gen und Er­läu­te­run­gen zu den verschie­densten As­pek­ten der an­ge­spro­che­nen The­men.

----------------------------

1. Eine der interessantesten Fuß­noten befasst sich mit dem Par­kin­so­nis­mus, Lytico-Bodig zeigt – unter anderen – Symptome die­ser Er­kran­kung. "Parkinson selbst war nicht nur Arzt, sondern auch Pa­läon­to­lo­ge und hat 1804 das Buch Organic Remains of a Former World ver­öf­fent­licht, ei­nes der weg­wei­sen­den pa­läon­to­lo­gi­schen Wer­ke. Ich frage mich, ob er nicht viel­leicht das Par­kin­son­sche Syn­drom zum Teil als ei­nen Ata­vismus ver­stan­den hat, als eine Re­gres­sion, eine krank­heits­be­ding­te Rück­kehr zu einer ur­sprüng­lichen, «vor­sint­flut­li­chen» Funk­tions­weise, die in frü­hes­te stam­mes­ge­schicht­liche Ver­gan­gen­heit zurück­reicht.
Ob es sich beim Parkinsonismus tat­sächlich so verhält, ist sicher­lich strit­tig, ganz gewiß aber kommt es bei post­en­ze­pha­li­tischen Syn­dro­men hin und wie­der zu Re­gres­sio­nen auf oder Ma­ni­fes­ta­tio­nen von Ver­hal­tens­wei­sen pri­mi­ti­ver Art. Insbe­sondere gilt dies für ein sel­te­nes Leiden – Bran­chial­myoklonus –, das durch Lä­sio­nen des Hirn­stamms ent­steht. Dabei verfallen Gaumen­segel in rhythmische Be­we­gun­gen der Mit­tel­ohr- und be­stimm­ter Na­cken­mus­keln – ein selt­sa­mes und un­ver­ständ­liches Muster, bis man erkennt, daß es sich um die Ru­di­men­te der Kie­men­bögen und die dazugehörige Mus­ku­la­tur han­delt. Der Bran­chialmyoklonus ist also die Kie­men­bewegung beim Men­schen, womit einmal mehr be­wie­sen ist, daß wir noch im­mer un­se­re aquatischen Vor­fah­ren, unsere Vor­gän­ger im Prozeß der Evo­lu­tion, in uns tragen." S. 292

----------------------------

12. Juni 2020

Reisen

Gelesen : Weiteres : Impressum