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Hans Scherer: Côte d'Azur Hans Scherer
Côte d'Azur
Schöffling & Co. 1998, 149 Sei­ten
ISBN 3-89561-562-5

Hans Scherer (1938 – 1998) war ab 1973 Re­dak­teur und Kul­tur­kor­res­pon­dent der FAZ. Er be­reis­te als jun­ger Mann zum ers­ten Mal die Côte d'Azur und die Ge­rü­che und Far­ben die­ses Früh­lings lie­ßen ihn seit­her nicht mehr los. Die Blü­ten, das Meer, das über­helle Licht, die gesamte At­mo­sphä­re die­ser Küste mit ih­ren Städten und Be­woh­nern wa­ren ihm im­mer wie­der An­lass für län­ge­re und kür­ze­re Au­fent­hal­te, häu­fig ar­bei­tend, immer wie­der auch zur reinen Ent­span­nung. Jahr­zehn­te, in denen er die Kul­tur und Ge­schich­te dieses süd­lichs­ten Teils der Provence ken­nen lernte und studierte. In Tei­len mal zu Frankreich, mal zu Italien gehörend unterlag und unterliegt die Ge­gend den künst­le­ri­schen und ar­chi­tek­to­ni­schen Ein­flüs­sen bei­der Län­der.

Scherer beschreibt die Ent­wick­lung der Orte von Mar­seille bis nach Monaco in den letz­ten Jahr­zehn­ten, fügt his­to­ri­sche Ex­kur­se ein, gibt Aus­kunft über örtliche Be­son­der­hei­ten und legt ge­stei­ger­ten Wert auf die Künstler und ihre Wer­ke, die hier tä­tig waren und was davon in Museen oder an Ge­bäu­den noch zu sehen ist. Pi­cas­so in Vallauris, wo er sich zwei Jahre lang der Töpferei hin­gab, Im­pressionisten wie Cé­zanne, Renoir, Mo­net, die mit dem Licht kämpften, das hier so viel heller er­scheint, und ein Ex­kurs über Van Gogh, der in der Provence die "Ster­nen­nacht" mal­te und einige Zeit in ei­ner psy­chia­tri­schen An­stalt zu­brach­te. Später dann Ma­tisse, Bonnard, Cha­gall und nach dem 2. Welt­krieg un­ter an­de­rem Fernand Léger und Yves Klein. Eine li­te­ra­ri­sche Côte d'Azur hat es allerdings kaum ge­ge­ben, wenn auch vie­le Autoren hier logiert ha­ben (z.B. Nietzsche in Nizza) oder ih­re letzte Ru­he gefunden ha­ben: Klaus Mann in Cannes. Wäh­rend des 2. Weltkriegs war die Côte d'Azur für viele ins Exil Ge­zwun­ge­ne das Tor zur frei­en Welt.

Die vor Cannes liegenden In­seln, in jeder Hin­sicht ein Kon­trast zur Stadt selbst, mit dem Klos­ter des Mönchs Hono­ra­tius, der sich als Ere­mit schon um 400 nach Chr. hier nie­der­ließ. Die gro­ße Fes­tung auf der Ile Sainte-Marguerite, die über Jahr­hun­der­te als Staats­ge­fäng­nis benutzt wur­de und de­ren pro­minentester Ge­fan­ge­ner der "Mann mit der ei­ser­nen Mas­ke" gewesen ist, über des­sen Identität noch heute nur spe­ku­liert wer­den kann.

Eine Bahnfahrt, die Scherer nach Digne brachte mit sei­nem Denk­mal für den Theo­lo­gen, Na­tur­wis­sen­schaft­ler und Phi­lo­so­phen Pierre Gas­sen­di (1592 – 1655) und wo Alex­an­dra Da­vid-Neel ihren Le­bens­abend verbrachte und starb. Ville­franche, wo Coc­teau die Ka­pel­le Saint-Priere in­nen und au­ßen bemalte. Mo­na­co mit sei­ner wech­sel­vol­len Ge­schich­te und Nizza und Cannes und und und.

Aber nicht nur die Strand­pro­me­na­den, nicht nur die tou­ris­ti­schen Se­hens­wür­dig­kei­ten und pro­mi­nen­ten Namen fin­den sein Interesse. Auch die Gas­sen und Plätze jenseits der Tou­ris­ten­strö­me be­schreibt Sche­rer mit viel Ein­füh­lungs­ver­mö­gen und De­tail­kenntnis. Der Kä­se­la­den mit den 380 Sor­ten Kä­se, das Bistro, in de­nen Ein­wan­de­rer aus Nord­af­ri­ka ihren Kaf­fee trinken, die blü­hen­den Hänge über den Or­ten, der Duft und immer wie­der das Licht über dem Meer. Das sind Sche­rers Stär­ken, die at­mo­sphä­ri­schen Be­schrei­bun­gen von Land­schaf­ten, von Be­ob­ach­tun­gen und Ein­drü­cken, die man nur aus einer ent­spannten Sin­nes­wahr­neh­mung gewinnen kann.

Das Buch ist im Todes­jahr Sche­rers erschienen und ist als Rei­sefüh­rer sicher un­ge­eig­net. Es sind Erinnerungen, Im­pres­sio­nen, Berichte und das Wis­sen um die Hin­ter­grün­de, die sich zu ei­nem Kul­tur­pa­no­ra­ma ver­mi­schen, das eine wert­vol­le Lek­tü­re für den Reisenden der Ge­gen­wart dar­stellt. Ein leich­tes, ein luf­ti­ges Werk, das Sehn­sucht und Reminiszenz in sich ver­eint.

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28. Oktober 2020

Reisen

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