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Leonardo Sciascia: Das Hexengericht Leonardo Sciascia
Das Hexengericht. Drei Er­zäh­lungen.
Aus dem Ita­lie­ni­schen von Christine Wolter
Benziger Verlag 1986, 252 Seiten
ISBN 3 545 36433 X

Drei Erzählungen, die sich mit der Macht und ihrem Miss­brauch auf Si­zi­lien beschäf­tigen. Die Aus­gangs­la­ge sind historisch belegte Fäl­le, die Sciascia akribisch re­cher­chiert und lite­rarisch umge­setzt hat.

Das Hexengericht folgt dem Schicksal einer Magd, die be­schul­digt wurde ihren Dienst­her­ren auf magische Wei­se ver­hext zu haben und ihm Schaden zugefügt zu ha­ben. Man­zo­ni hatte den Fall in "Die Verlobten" zitiert und damit Sciascias Interesse geweckt. Ihm gelingt es, die Pro­zess­un­ter­la­gen ein­zu­se­hen. Er stößt auf Un­ge­reimt­hei­ten und Wi­der­sprü­che, die die An­kla­ge ad absurdum führen. Auf ein­dring­li­ches Befragen und Drohung mit der Folter ge­steht die An­ge­klag­te je­doch und nennt weitere Na­men. Die Verhöre wei­ten sich aus, die Ge­ständ­nisse pas­sen sich den jeweiligen Ver­neh­men­den an, und dann be­steht man, trotz der Will­fäh­rig­keit der Ge­stän­di­gen, auf der Folter. Nun gibt es kein Halten mehr: Hexen­sab­bat, körperliche Ver­ei­ni­gung mit dem Teufel, noch mehr Verhexungen und Na­men, Na­men, Na­men. Die Phan­ta­sien der Vernehmer kom­men auf ihre Kos­ten.

Am 4. Februar 1617 endet der Prozess mit der Ver­ur­tei­lung zum Tode, einen Mo­nat später findet die öffentliche Voll­stre­ckung statt: Auf ei­nem Karren wird die Frau zur Hin­rich­tungs­stät­te ge­bracht, dort mit Zangen gezwickt und an­schlie­ßend erwürgt. Den Körper verbrennt man auf einem Schei­ter­hau­fen.

Die Messerstecher, die zwei­te Erzählung in dem Band, han­delt von einer An­schlags­se­rie, die sich am 1. Oktober 1872 in Palermo ereignete. An ver­schie­de­nen Stellen der Stadt werden ins­ge­samt 13 Menschen mit Messern an­ge­grif­fen und ver­letzt. Die Täter tragen eine Art Uniform, das Motiv ist in allen Fällen unklar. Einer der Attentäter kann fest­ge­nom­men werden, er ge­steht und nennt die Namen sei­ner Kom­pli­zen. Nach lang­wie­ri­gen und von höherer Stelle im­mer wieder gestörten Er­mitt­lun­gen ergibt sich das Bild, dass die Täter wenige Tage vor der Tat an­ge­spro­chen worden wa­ren, man hatte ihnen Geld ver­spro­chen und schließlich den Tag ge­nannt, an dem die Attentate stattfinden sollten. Die Hin­ter­män­ner sollten Fürs­ten und ho­he Geist­liche gewesen sein, die durch das an­ge­rich­te­te Chaos den Ruf nach der al­ten Bour­bo­nen­herr­schaft er­neuern wollten. Die Täter, alle­samt arme und ar­beits­lo­se Männer, werden ver­ur­teilt (3 zum Tode, 20 Jah­re für den Geständigen, alle an­de­ren le­bens­läng­liche Zwangs­ar­beit). Die ver­meint­lichen Hin­ter­män­ner werden entlastet und – obwohl es hin­reichende Grün­de gibt, die ihre Schuld nahelegen – blei­ben un­be­hel­ligt.

Am Ende wird das Verfahren gegen sie eingestellt.

Der Titularbischof ist die dritte Erzählung und be­schreibt an­hand des Bischofs von Patti, Ficarra, die Ver­quickung kirch­li­cher Kreise mit dem Faschismus und spä­ter der De­mo­cra­zia Cris­tiana (DC). Der Bischof war auf­ge­fal­len durch eine Studie zum beklagenswerten Aber­glau­ben der si­zi­lia­ni­schen Be­völ­ke­rung, deren Ver­öf­fent­li­chung verhindert wur­de. Zudem interessierte er sich nicht für die macht­po­li­ti­schen Intrigen der Kirche und ver­wei­ger­te sich einer Zu­sam­men­ar­beit mit den Fa­schis­ten. Nach dem Krieg erleidet die DC bei den ersten Wahlen Niederlagen in sei­nem Ein­fluss­be­reich, obwohl es eine Direktive des hohen Klerus gegeben hat­te, die die Pries­ter verpflichten sollte, zur Wahl der DC auf­zu­ru­fen. Man wollte Ficarra durch einen gefügigeren Bischof ersetzen. Doch der wi­der­setzt sich. Der ihm über­ge­ord­ne­te Kardinal legt ihm einen Rücktritt aus ge­sund­heit­li­chen Gründen nah, doch Ficarra ist kern­ge­sund und nicht ge­willt, den eindeutig politisch motivierten Be­mü­hun­gen, ihn aus dem Amt zu jagen, nachzugeben. Der Druck wird erhöht, ihm wird ein Weih­bischof bei­ge­ord­net, der die gemeinsamen In­te­res­sen der Kirche mit der DC durchsetzen soll, am Ende liest Ficarra in der Zei­tung von seinem eigenen Rücktritt, der mit einer Be­för­de­rung zum Titularerzbischof ver­knüpft ist. Sein neuer Wir­kungs­be­reich ist Leontopolis in Augustamnica im öst­li­chen Nil­delta. Weit weg von Si­zi­lien.

Leonardo Sciascias Lebens­thema ist die spezielle si­zi­lia­nische Variante der Macht­intri­gen, die sich durch die Jahr­hun­der­te ziehen.

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20. Oktober 2020

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