Kassiber leer
Autoren Glossen Lyrik

Jutta Seidel Das große Dilemma Jutta Seidel
Das große Dilemma.
Leipziger Antifaschisten in der SS-Sturmbrigade "Dir­le­wan­ger".
Rosa-Luxemburg-Stif­tung Sachsen 1999, 96 Sei­ten
ISBN 3-932725-38-7

Das "Sonderkommando Dir­le­wan­ger" war eine Ein­heit der Waf­fen-SS, die anfänglich vor al­lem aus ver­ur­teil­ten Wild­die­ben bestand. Spä­ter wur­den auch Mitglieder der SS und der Wehr­macht "zur Be­wäh­rung" auf­ge­nom­men, die ei­ner Straf­tat überführt wor­den wa­ren oder sich schwe­re dis­zi­pli­na­ri­sche Ver­ge­hen hat­ten zu­schul­den kommen las­sen. Be­nannt nach dem Ober­sturm­füh­rer Os­kar Dir­le­wan­ger, wur­de das Son­der­kom­man­do zur Über­wa­chung jü­di­scher Ar­beits­la­ger, ab Februar 1942 dann zur Par­ti­sa­nen­be­kämp­fung in Weiß­russ­land ein­ge­setzt. Die Trup­pe war für ihr extrem bru­ta­les Vor­ge­hen be­rüch­tigt und spiel­te bei der Nie­der­schla­gung des War­schau­er Aufstands 1944 ei­ne Rol­le, ihr sind zahl­lo­se Kriegs­ver­bre­chen zu­zu­rech­nen.

Dirlewanger (1895 – 1945) selbst hatte we­gen der Ver­ge­wal­ti­gung eines 13-jährigen Mäd­chens zwei Jah­re im Zucht­haus ge­ses­sen und wur­de später noch mehr­mals we­gen ver­schie­de­ner Delikte ver­ur­teilt. Verluste in den Rei­hen des Son­der­kom­man­dos wur­den durch kri­mi­nel­le oder als aso­zial ein­ge­stuf­te Häft­lin­ge aus Kon­zen­tra­tions­la­gern kom­pen­siert. Spä­ter ging man so­gar da­zu über po­li­ti­sche Häft­lin­ge aus Kon­zen­tra­tions­la­gern zu re­kru­tie­ren. Den Kom­man­dan­ten ver­schie­de­ner La­ger wur­den An­for­de­rungs­lis­ten aus­ge­hän­digt, sie soll­ten ins­ge­samt ca. 900 po­li­ti­sche Häft­lin­ge zur Ver­fü­gung Dir­le­wan­gers bereit stel­len. Unter den Häft­lin­gen gab es un­ter­schied­li­che Po­si­tio­nen da­zu. Ein Teil wollte sich re­kru­tie­ren lassen, um an­schlie­ßend die Waffen ge­gen die SS zu rich­ten oder um zu de­ser­tie­ren und sich der Ro­ten Ar­mee oder den Par­ti­sa­nen anzuschließen. An­de­re ar­gu­men­tier­ten ve­he­ment ge­gen diese Hal­tung und war­fen de­ren Vertretern vor, den an­ti­fa­schis­ti­schen Wi­der­stand da­durch zu dis­kre­di­tie­ren.

Schließlich waren es knapp 800 Häftlinge, die vor al­lem in der 9. und der 12. Kompanie zu­sam­men­ge­fasst wur­den. Als sie im De­zem­ber 1944 zu ih­rem ers­ten Fronteinsatz ka­men, ver­such­ten sie ge­schlos­sen zu den ihnen ge­gen­über liegenden Ein­hei­ten der Roten Ar­mee über­zu­lau­fen. Da­bei ge­rie­ten sie ins Kreuz­feu­er der SS ei­ner­seits, die die De­ser­tion verhindern woll­te, und der Roten Armee an­de­rer­seits, die die Ak­tion als Fin­te der SS be­trach­te­te. Hans-Peter Klausch be­schreibt die Dra­ma­tik dieser Si­tua­tion sehr anschaulich in sei­nem le­sens­wer­ten Buch "An­ti­fa­schis­ten in SS-Uni­form" (Edi­tion Tem­men 1993).

Der Übertritt gelang nicht al­len und nicht auf An­hieb. Nach meh­re­ren Ver­su­chen konn­ten sich in den nächsten Ta­gen et­wa 500 Männer in die Un­ter­stän­de der Roten Ar­mee ret­ten, der Rest starb bei dem Ver­such.

Das Schicksal der Über­le­ben­den war nicht ein­heit­lich. Wäh­rend einige den Pro­pa­gan­da­ein­hei­ten der Ro­ten Ar­mee zu­ge­wie­sen wurden, ge­lang­ten an­de­re in sow­je­ti­sche Ge­fan­gen­schaft und wurden vor al­lem als Mitglieder der SS wahr­ge­nom­men und nicht als an­ti­fa­schis­ti­sche Kämpfer, ent­spre­chend war ihre Be­hand­lung. Auch nach dem Krieg gab es – vor allem in der DDR – lan­ge Aus­ei­nan­der­set­zun­gen um den Sta­tus die­ser Über­le­ben­den. Nach­dem es schließ­lich eine weit­ge­hen­de Über­ein­stim­mung da­rin gegeben hat­te, diese Men­schen als Opfer des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus und als Kämp­fer gegen den Fa­schis­mus einzuordnen, wur­den wei­te­re De­bat­ten zu diesem The­ma als un­er­wünscht be­en­det.

Jutta Seidel gibt einen Über­blick über die Ent­wick­lung der Sturm­bri­ga­de und der Person Dir­le­wan­gers, schildert die Vor­gän­ge um die Re­kru­tie­rung der An­ti­fa­schis­ten für die Sturm­bri­ga­de Dir­le­wan­ger, die in den Lagern statt­ge­fun­den haben, und ana­ly­siert die Hal­tung von DDR-Funk­tio­nä­ren nach dem Krieg. Die Ar­gu­men­te der Be­trof­fe­nen selbst – Be­für­wor­ter und Geg­ner der Re­kru­tie­rung – wer­den dar­ge­stellt. Darüber hi­naus be­schreibt sie die Schick­sa­le einiger Leip­zi­ger An­ti­fa­schis­ten (fast al­le Kom­mu­nis­ten), die in die Er­eig­nis­se ver­wi­ckelt wa­ren.

Jutta Seidel (1931 – 2017) lehr­te über 20 Jah­re an der Leip­zi­ger Uni­ver­si­tät. Ihr For­schungs­ge­biet war die Ge­schich­te der deut­schen und in­ter­na­tio­na­len Ar­bei­ter­be­we­gung.

----------------------------

10. Februar 2024

Geschichte

Gelesen : Weiteres : Impressum