Kassiber | ![]() |
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Carls Eltern, Inge und Walter Bischoff, rufen ihn zu sich nachdem man länger nichts von einander gehört hatte. Die Grenze zwischen der DDR und der BRD ist seit einigen Tagen offen, und sie wollen in den Westen bevor die Grenze möglicherweise wieder dicht gemacht wird. Carl soll die elterliche Wohnung in Gera betreuen bis sich Weiteres ergibt. Er zieht nach einiger Zeit nach Berlin und landet in einer Subkultur, deren Ränder ins Kleinkriminelle fließen. Er fährt schwarz Taxi, betätigt sich in der Szene als Maurer und beginnt zaghaft zu dichten. Derweil sind die Eltern nach dem zentralen Aufnahmelager in Gießen getrennte Wege gegangen auf der Suche nach Arbeit. Sie werden von Unterkunft zu Unterkunft gereicht bis Inge von der Familie eines aus Syrien geflohenen Arztes aufgenommen wird, wo sie die Hausarbeit übernimmt. Später finden die Eltern wieder zusammen als Walter eine Stellung in Gelnhausen bekommt. Carl begegnet Effie, einer jungen Frau, in die er schon in Gera verliebt gewesen ist. Sie hat einen Sohn, Freddie, und möchte künstlerisch arbeiten. Sie werden ein Paar. So zumindest erscheint es Carl. Dann wieder zweifelt er. An der Beziehung, an seiner Arbeit als Lyriker, an den Plänen seiner Eltern, an sich selbst. Carls Mutter berichtet ihm in Briefen über ihre weitere Entwicklung, Carl selbst verschweigt lange Zeit, dass er in Berlin und wie er dort lebt. Walter wird arbeitslos, Inge nimmt verschiedene Stellen als Haushaltshilfe an. Carl und seine Szene leben in heruntergekommenen Häusern, die ganz oder teilweise besetzt sind. Man richtet Cafes und Ateliers ein, Revolution und gelegentliche Kriminalität koexistieren. Das Milieu beginnt sich zu verändern, vier von Carls Gedichten sollen in einer Antholgie erscheinen. Rico, Freddies Vater, taucht auf und wohnt in der Wohnung neben Effie, Carl erahnt das Ende. Walter bekommt eine neue Anstellung, die ihm eine Zukunft in den USA ermöglicht. Die Eltern leben in Malibu, wo Carl sie besucht. Er erfährt dort von ihnen, dass sie schon ganz zu Beginn ihrer Beziehung, Carl war noch nicht geboren, durch die Bekanntschaft mit Bill Haley, den sie auf einem Konzert kennengelernt hatten, Pläne hatten, in die USA auszuwandern, Walter wollte als Musiker Karriere machen. Walter und Carl legen Blumen am Stern Bill Haleys auf dem Hollywood Walk of Fame nieder. Carl erscheint als der tumbe Tor, der kaum einen vollständigen Satz formulieren kann. Der naiv und unschuldig durch diese ihm fremde Welt tappt, der sich aber nach und nach bewusst wird, dass er weder seine Eltern, noch Effie, noch sich selbst gekannt hat. Am Ende steht eine Art Erweckungserlebnis: "Er hörte das Rauschen, das immerwährende Geräusch, das ihn gütig umschloss und abwesend machte. Es war eine Form tiefen Vertrauens – und der Verlassenheit. Vertrauen in die eigene Verlassenheit, dachte Carl, falls das möglich war." (S. 497) Parzival am Prenzlauer Berg. Im Epilog wird das ER zum ICH und macht damit deutlich, dass Seiler in diesem Roman autobiographische Elemente fiktionalisiert hat. Skizzenartig wird die weitere Entwicklung und rasche Veränderung aufgezeigt, die mit der Stadt und den Menschen passiert. Jahre später ist die Veränderung so radikal, dass nur noch vage Erinnerungen bleiben. Die Nebencharaktere sind meinem Empfinden nach überzeichnet dargestellt und erinnern an die Comicfiguren bei Gerhard Seyfried und Gilbert Shelton. Stern 111 war der Name eines Kofferradios, das in den 1960er Jahren vom Volkseigenen Betrieb "Stern-Radio Berlin" hergestellt wurde, mit dem Carls Eltern AFN und Radio Luxemburg hören konnten, wo Rock'n Roll gesendet wurde. Carls Vater erzählt ihm am Ende (und damit steht Stern 111 am Anfang und am Ende von Carls Geschichte), dass die Familie, nachdem Carl geboren worden war, Wanderungen unternommen hatte und Carl ganz begeistert auf die Musik reagiert hatte, nicht ahnend, dass sie den Wunsch der Eltern nach einem anderen Leben symbolisierte. Lutz Seiler hat für Stern 111 den Preis der Leipziger Buchmesse 2020 verliehen bekommen. Zitate: Die meisten Schiffbrüchigen scheiterten erst nach ihrer Heimkehr – das war das Traurige an diesen Geschichten. S. 9 Seine Eltern? Sie waren die unwahrscheinlichsten Flüchtlinge, die Carl sich vorstellen konnte. S. 25 Für einen Moment beschlich ihn der Verdacht, dass die Welt, der er angehörte, klammheimlich verschwunden und er einer der Übriggebliebenen war, ein Stück angefaultes Treibholz auf dem großen breiten Strom der neuen Zeit. S. 54 Es war nicht das Weggehen, die Trennung, nicht diese gut benennbare, fassbare, es war die andere Verlassenheit: Er erkannte seine Eltern nicht wieder. S. 127 Was der Westen an Walter außerdem zum Vorschein brachte: dass sein Vater ein Mischwesen war, eine seltene Art des Übergangs, zwischen den Zeiten, halb aus Vergangenheit und halb aus Zukunft gemacht. S. 391 Denn das, dachte Carl, ist der Sinn der Familie: ein Überlebensverbund, der dafür sorgt, dass das Eigentliche unerkannt bleibt. S. 485 ---------------------------- 5. Januar 2021 |
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