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Lutz Seiler: Stern 111 Lutz Seiler
Stern 111.
Roman.
Suhrkamp Verlag 2020, 528 Seiten
ISBN 978-3-518-42925-9

Carls Eltern, Inge und Walter Bi­schoff, rufen ihn zu sich nach­dem man länger nichts von ei­nan­der ge­hört hatte. Die Gren­ze zwischen der DDR und der BRD ist seit ei­ni­gen Ta­gen of­fen, und sie wollen in den Wes­ten bevor die Grenze mög­li­cher­wei­se wieder dicht ge­macht wird. Carl soll die el­ter­li­che Woh­nung in Gera betreuen bis sich Weiteres ergibt. Er zieht nach einiger Zeit nach Ber­lin und landet in einer Sub­kul­tur, de­ren Ränder ins Klein­kri­mi­nel­le fließen. Er fährt schwarz Taxi, betätigt sich in der Szene als Maurer und be­ginnt zag­haft zu dichten.

Derweil sind die Eltern nach dem zentralen Aufnahmelager in Gießen getrennte Wege ge­gan­gen auf der Suche nach Ar­beit. Sie werden von Unter­kunft zu Unterkunft gereicht bis Inge von der Familie eines aus Syrien geflohenen Arztes auf­ge­nom­men wird, wo sie die Haus­arbeit übernimmt. Später fin­den die Eltern wieder zu­sam­men als Walter eine Stellung in Geln­hau­sen bekommt.

Carl begegnet Effie, einer jun­gen Frau, in die er schon in Gera verliebt gewesen ist. Sie hat einen Sohn, Freddie, und möch­te künstlerisch ar­bei­ten. Sie werden ein Paar. So zu­min­dest er­scheint es Carl. Dann wieder zweifelt er. An der Be­zie­hung, an seiner Arbeit als Lyriker, an den Plänen seiner El­tern, an sich selbst.

Carls Mutter berichtet ihm in Brie­fen über ihre weitere Ent­wick­lung, Carl selbst ver­schweigt lan­ge Zeit, dass er in Ber­lin und wie er dort lebt. Wal­ter wird arbeitslos, Inge nimmt ver­schie­de­ne Stellen als Haus­halts­hil­fe an. Carl und sei­ne Sze­ne leben in he­run­ter­ge­kom­menen Häu­sern, die ganz oder teil­wei­se be­setzt sind. Man richtet Cafes und Ateliers ein, Re­vo­lu­tion und ge­le­gent­liche Kriminalität ko­exis­tieren. Das Mi­lieu be­ginnt sich zu ver­än­dern, vier von Carls Gedichten sol­len in einer Antholgie er­schei­nen. Rico, Freddies Vater, taucht auf und wohnt in der Woh­nung neben Effie, Carl er­ahnt das En­de.

Walter bekommt eine neue An­stellung, die ihm eine Zu­kunft in den USA ermöglicht. Die Eltern leben in Malibu, wo Carl sie be­sucht. Er erfährt dort von ihnen, dass sie schon ganz zu Be­ginn ihrer Beziehung, Carl war noch nicht geboren, durch die Bekanntschaft mit Bill Haley, den sie auf einem Kon­zert ken­nen­ge­lernt hatten, Plä­ne hatten, in die USA aus­zu­wan­dern, Walter wollte als Mu­si­ker Karriere machen. Wal­ter und Carl legen Blumen am Stern Bill Haleys auf dem Hollywood Walk of Fame nie­der.

Carl erscheint als der tumbe Tor, der kaum einen voll­stän­di­gen Satz formu­lieren kann. Der naiv und unschuldig durch die­se ihm fremde Welt tappt, der sich aber nach und nach be­wusst wird, dass er we­der sei­ne El­tern, noch Effie, noch sich selbst ge­kannt hat. Am En­de steht eine Art Er­we­ckungs­er­leb­nis: "Er hörte das Rauschen, das im­mer­wäh­ren­de Geräusch, das ihn gü­tig um­schloss und ab­we­send mach­te. Es war eine Form tie­fen Vertrauens – und der Ver­las­sen­heit. Ver­trauen in die eigene Verlassenheit, dach­te Carl, falls das möglich war." (S. 497) Parzival am Prenz­lau­er Berg.

Im Epilog wird das ER zum ICH und macht damit deutlich, dass Seiler in diesem Roman auto­bio­gra­phische Elemente fik­tio­na­li­siert hat. Skiz­zen­ar­tig wird die weitere Entwicklung und rasche Ver­änderung auf­ge­zeigt, die mit der Stadt und den Menschen passiert. Jahre spä­ter ist die Ver­änderung so ra­di­kal, dass nur noch vage Er­in­ne­run­gen bleiben.

Die Nebencharaktere sind mei­nem Empfinden nach über­zeich­net dargestellt und er­in­nern an die Comicfiguren bei Gerhard Seyfried und Gil­bert Shelton.

Stern 111 war der Name eines Kofferradios, das in den 1960er Jahren vom Volks­ei­ge­nen Be­trieb "Stern-Radio Berlin" her­ge­stellt wurde, mit dem Carls Eltern AFN und Radio Luxem­burg hören konn­ten, wo Rock'n Roll gesendet wurde. Carls Va­ter erzählt ihm am Ende (und damit steht Stern 111 am An­fang und am Ende von Carls Ge­schich­te), dass die Fa­mi­lie, nachdem Carl ge­bo­ren wor­den war, Wanderungen un­ter­nom­men hat­te und Carl ganz be­geis­tert auf die Musik rea­giert hatte, nicht ahnend, dass sie den Wunsch der Eltern nach einem anderen Leben sym­bo­li­sier­te.

Lutz Seiler hat für Stern 111 den Preis der Leip­zi­ger Buch­mes­se 2020 verliehen be­kom­men.

Zitate:

Die meisten Schiffbrüchigen schei­ter­ten erst nach ihrer Heim­kehr – das war das Trau­rige an die­sen Geschichten. S. 9

Seine Eltern? Sie waren die un­wahr­schein­lichs­ten Flücht­lin­ge, die Carl sich vorstellen konn­te. S. 25

Für einen Moment beschlich ihn der Verdacht, dass die Welt, der er angehörte, klamm­heim­lich ver­schwunden und er einer der Übrig­ge­blie­be­nen war, ein Stück an­ge­faul­tes Treibholz auf dem großen breiten Strom der neuen Zeit. S. 54

Es war nicht das Weggehen, die Trennung, nicht die­se gut be­nenn­ba­re, fassbare, es war die an­de­re Verlassenheit: Er er­kann­te seine Eltern nicht wie­der. S. 127

Was der Westen an Walter außer­dem zum Vor­schein brach­te: dass sein Vater ein Misch­wesen war, eine seltene Art des Über­gangs, zwischen den Zeiten, halb aus Ver­gan­gen­heit und halb aus Zukunft gemacht. S. 391

Denn das, dachte Carl, ist der Sinn der Familie: ein Über­le­bens­ver­bund, der dafür sorgt, dass das Eigentliche un­er­kannt bleibt. S. 485

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5. Januar 2021

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