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Autoren Glossen Lyrik

Olga Tokarczuk: Unrast Olga Tokarczuk
Unrast.
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky.
Büchergilde Gu­ten­berg 2019, 460 Sei­ten
ISBN 978 3 7632 7176 4

Was sich zunächst wie No­ti­zen, ge­schrie­ben in Zügen und Flug­zeu­gen, liest, weitet sich immer wie­der zu einer col­la­ge­ar­ti­gen Es­say­is­tik des mo­der­nen No­ma­den­tums aus, zu Flucht und Ver­schwin­den, er­zählt aber auch vom Be­wah­ren und Kon­ser­vie­ren [1].

Beobachtend, reflektierend, er­in­nernd beschreibt die Au­to­rin Mo­men­te, deren Be­son­der­heit nicht immer auf den ers­ten Blick erkennbar ist, sich häufig aber aus spä­te­ren Be­mer­kun­gen ergibt. Im­mer wie­der unter­brechen sie län­ge­re Er­zähl­strän­ge. Es gibt Ba­na­les, Spek­ta­ku­lä­res, His­to­ri­sches, Me­di­zi­ni­sches, die Au­to­rin ist auf der Su­che nach al­lem, "was ka­putt, un­voll­kom­men, defekt, zer­bro­chen ist. Mich in­te­res­siert das Un­an­sehn­liche, Irr­tü­mer der Schöp­fung, Sack­gas­sen". S. 24

Drei Briefe der Josephine von Feuchtersleben, der Toch­ter An­ge­lo Solimans [2], ei­nes Afri­ka­ners, der in ver­schie­de­nen Funk­tio­nen am Hof des Fürsten von Liech­ten­stein tä­tig war, um die Ent­fer­nung sei­nes prä­pa­rier­ten Körpers aus dem Kai­ser­li­chen Na­tu­ra­lien­kabinett zu er­wir­ken; das rätselhafte Ver­schwin­den ei­ner Frau und ihrer Tochter bei einem Spa­zier­gang auf einer Insel und ihr Wie­der­auf­tau­chen; die ana­to­mi­schen Stu­dien des Chirurgen Philip Ver­heyen [3] und die Kon­ser­vie­run­gen, die sie be­glei­ten, so­wie die Reise des Her­zens von Frederic Chopin nach War­schau umkreisen [4], ne­ben vie­len anderen, die The­ma­tik von Leben und Tod, von Ver­gäng­lich­keit und Wan­del. Reisen, entfernen, an­nä­hern, su­chen: Unrast.

Der Originaltitel, 'Bieguni', ist der Name einer Sekte [5], de­ren Mitglieder der An­nah­me waren, der Teufel würde ihrer hab­haft werden, wenn sie nicht ständig unterwegs wä­ren.

Illustriert ist das Buch mit Land­kar­ten aus ver­schie­de­nen Epo­chen.

Olga Tokarczuk (Jahrgang 1962) erhielt den Nobelpreis für Li­te­ra­tur des Jahres 2018. Sie war als Psy­cho­lo­gin in der Tra­di­tion von Carl Gustav Jung tätig, in­zwi­schen arbeitet sie aus­schließ­lich literarisch.

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1. "1677 konnt man in Prag beim heiligen Veit Folgendes be­sich­ti­gen: die unversehrten Brüs­te der heiligen Anna in ei­nem ver­schlos­se­nen Kris­tall­glas; den Kopf des heiligen Mär­ty­rers Stefan, den Kopf von Jo­han­nes dem Täufer. Bei den Schwes­tern der heiligen The­re­sa wur­de Interessierten das drei­hun­dert Jahre zuvor ver­stor­be­ne kleine Nönn­chen gezeigt, das bestens erhalten hinter ei­nem Gitter saß. Bei den Je­su­i­ten hin­ge­gen gab es den Kopf der heiligen Ursula und den Hut nebst einem Finger des heiligen Xa­ver zu be­wun­dern." S. 121f

2. Angelo Soliman (um 1721 bis 21. November 1796) wurde als Skla­ve nach Europa gebracht und wurde an verschiedenen Fürs­ten­häu­sern als Kam­mer­die­ner be­schäf­tigt. Bei Fürst Wen­zel von Liech­ten­stein stieg er zum Chef der Diener­schaft auf. 1781 wurde er Mit­glied der Frei­mau­rer­lo­ge "Zur wahren Ein­tracht" in Wien. Nach sei­nem Tod 1796 wur­de seine Haut präpariert und als "Wilder" mit Fe­dern und Mu­schel­kette im Kai­ser­li­chen Na­tu­ra­lien­kabinett zur Schau ge­stellt. 1848 ver­brann­te sein Körper während des Wiener Ok­to­ber­auf­standes.

3. 1648 bis 1710, Chirurg und Ana­tom. Nach der Amputation sei­nes lin­ken Beines studierte er Medizin und entwickelte neu­ar­ti­ge Me­tho­den der Kon­ser­vie­rung.

4. Nach Frederic Chopins Tod am 17. Oktober 1849 in Paris, wur­de auf seinen Wunsch eine Ob­duk­tion vorgenommen, bei der sein Herz ent­nom­men wur­de, um in der Heilig-Kreuz-Kir­che in War­schau be­stat­tet zu wer­den. Seine Schwester Lud­wi­ka brachte das in Alkohol ein­ge­leg­te Herz heim­lich über die Gren­zen, wo sie es zunächst für ei­ni­ge Wochen in ih­rer Woh­nung aufbewahrte. Dann ver­brach­te man es in die Kel­ler­räu­me der Heilig-Kreuz-Kirche, wo es später in eine Säu­le des Haupt­schiffs der Kirche ein­ge­mau­ert wurde.

5. Eine christliche russische Sek­te, die seit dem 18. Jahr­hun­dert exis­tiert und deren Nach­fah­ren noch immer jeden Be­sitz und jede Form der Sess­haf­tig­keit ablehnen. Die Autorin be­geg­net einem Mit­glied, An­nusch­ka, in einem Moskauer U-Bahn­hof.

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25. November 2022

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