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Ilija Trojanow Susann Urban: Fühlend sehe ich die Welt Ilija Trojanow / Susann Urban:
Fühlend sehe ich die Welt.
Die Aufzeichnungen des blin­den Welt­reisenden James Hol­man.
Malik / Piper 2010, 436 Sei­ten, 10 Ab­bil­dun­gen, 3 Karten
ISBN 978-3-89029-757-6

"Sicherheit beruht meist auf Aber­glau­ben. Weder kommt sie in der Na­tur vor, noch ist sie jedem Men­schen­kind ver­gönnt. Die Ver­mei­dung der Ge­fahr ist letzt­lich nicht si­che­rer, als sich ihr ohne Um­schwei­fe aus­zu­setzen. Das Le­ben ist entweder ein wag­hal­si­ges Abenteuer oder voll­kom­men be­lang­los." (Helen Keller) [1]

Der 1786 geborene Holman er­blin­de­te im Alter von 25 Jah­ren. Er war zwolfjährig der Ro­yal Navy beigetreten und in­zwi­schen zum Leutnant der bri­ti­schen Kriegs­marine auf­ge­stie­gen. Nach seiner Ent­las­sung aus der Armee stu­dier­te er in Edin­burgh Medizin und Literatur. Noch als Se­hen­der war sein größ­ter Wunsch, eine Welt­reise zu un­ter­neh­men. Fi­nan­ziell ab­ge­si­chert durch eine In­va­li­den­ren­te bereitete er sich akri­bisch auf seine zu­künf­ti­gen Reisen vor. Die erste führ­te ihn durch das west­liche Eu­ro­pa (1819 – 1921). Mit Hil­fe eines Noc­to­gra­phen [2] mach­te er sich umfang­reiche No­ti­zen zu sei­nen Reisen und Be­geg­nun­gen, die er an­schlie­ßend in Buch­form ver­öf­fent­lichte.

Der erste Versuch einer Welt­rei­se (1822 – 1824) fand in Si­bi­rien ein jähes Ende, wo er, zunächst ohne zu ahnen wa­rum, un­ter behördliche Auf­sicht gestellt wurde und unter stän­di­ger Be­glei­tung eines Feld­jä­gers nach Polen ab­ge­scho­ben wur­de. Man hatte ihn der Spio­nage ver­däch­tigt.

In den Jahren von 1827 bis 1832 gelang ihm schließlich die Rei­se durch vier Kon­ti­nen­te, die er in einer vier­bän­di­gen Aus­ga­be (1834) aus­führ­lich be­schrieb.

Noch zu Leb­zei­ten mehrte sich die Kritik an seinen Rei­se­be­rich­ten, man warf ihm An­ge­be­rei und Betrug vor. Sein letztes Ma­nu­skript fand schon keinen Ver­le­ger mehr. Hol­man ver­starb 1857 in Lon­don, er geriet schnell in Ver­ges­sen­heit.

Der vorliegende Text ist eine Zu­sam­men­stel­lung von Aus­zü­gen aus Holmans ver­schie­de­nen Wer­ken, kom­men­tiert und mit Fußnoten versehen von den Her­aus­ge­bern. Dabei sind nicht selten die Er­läu­terungen in­te­res­san­ter und in­for­mativer als der Ur­sprungs­text. Der über weite Strecken Zweifel an der Au­then­ti­zi­tät des Be­rich­te­ten aufkommen lässt. Wenn Land­schaf­ten, Son­nen­auf- und -un­ter­gänge, die Bekleidung der Per­so­nen, mit denen Holman zu­sam­men­traf, und manches an­de­re mehr bis ins Detail be­schrie­ben werden, dann fragt man sich, wie ein Blinder zu diesen Eindrücken ge­kom­men ist [3]. Zumal Holman mehr­fach da­rauf verweist, dass er, von Aus­nah­men abgesehen, al­lei­ne gereist ist [4]. Das ir­ri­tiert und lässt das Geschilderte un­glaub­wür­dig er­schei­nen. Da­rü­ber hin­aus tau­chen im­mer wie­der ras­sis­ti­sche Äu­ße­rungen auf, die nur schwer zu er­tra­gen sind: "Die­se (Ge­rü­che KM) reich­ten von köst­li­chen Düf­ten der Früchte und Blu­men bis zu dem Ge­stank, von dem ich annehme, daß er ty­pisch für ihre Haut­far­be ist." (S. 179) "Im all­ge­mei­nen sind die Ein­ge­bo­re­nen harm­los und fried­fertig, man sollte al­ler­dings hin­zu­fü­gen, daß es sich bei diesem Stamm wahr­schein­lich um das dre­ckigs­te Volk unter der Sonne handelt, …" (S. 210) "… Ge­sicht mit af­fen­ähn­li­chem Profil …" (S. 211) "Ich reiste mit einigen mo­sam­bi­ka­ni­schen Schwar­zen, die um ei­ni­ges düm­mer wa­ren als die Tiere, auf denen sie ritten." (S. 234) Und­so­wei­ter.

Nach den interessanten und le­sens­wer­ten Arbeiten Tro­ja­nows zu dem Reisenden Ri­chard Burton ("Der Welten­samm­ler" (Hanser 2006) und "No­ma­de auf vier Kon­ti­nen­ten" (Eichborn 2007)) war das Buch von und über James Hol­man eine ziem­li­che Ent­täu­schung.

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1. S. 14. Helen Keller (1880 – 1968) verlor im Alter von 19 Mo­na­ten durch eine Krankheit ihr Hör- und Seh­vermögen. Be­herrsch­te als Erwachsene meh­re­re Fremd­sprachen und schloss ihr Studium mit einem BA (cum lau­de) ab. Engagierte sich für Frie­den und soziale Ge­rech­tig­keit. Schrieb mehrere Bücher und wur­de mehr­fach aus­ge­zeich­net.

Noktograph2. Der Engländer Ralph Wedg­wood ließ 1806 ein für die Armee ent­wi­ckel­tes Nacht­schreib­ge­rät pa­ten­tie­ren, das auch Blin­den er­mög­lich­te "Briefe und No­ti­zen zu ver­fas­sen, in­dem sie mit einem Grif­fel auf ein zwischen Dräh­ten ge­spann­tes Pa­pier schrieben, un­ter dem sich ein Blatt Koh­le­pa­pier be­fand, so daß durch den Ab­druck auf ei­nem da­run­ter­lie­gen­den weißen Blatt die Buch­sta­ben sichtbar wurden." S. 11f

3. In St. Petersburg nimmt Hol­man im Eng­li­schen Club an ei­nem Spiel teil, das Boule bzw Boccia ähnelt. "… wobei sich he­raus­stellte, daß kein großer Un­ter­schied bestand zwischen je­nen, die sehen, und jenen, die nicht sehen konnten." S. 75. Tro­ja­now / Urban kom­men­tie­ren die­se Stelle mit dem Hinweis auf blin­de Kricketspieler in Neu Delhi und der Welt­meister­schaft im Blind Cricket. Erstaunlich.

4. "Ich reiste alleine. Niemand stand mir mit Rat und Tat zur Sei­te, und ich bewältigte meine Rei­sen, die oft­mals beschwerlich wa­ren und über weite Strecken gin­gen, mit sehr geringen finan­ziellen Mitteln." S. 317. In einem ge­wis­sen Widerspruch dazu steht die folgende Äußerung Hol­mans: "Ich hatte fest­gestellt, daß es besser war, jeweils vor Ort und wenn es die Not­wen­dig­keit er­for­der­te, einen Diener ein­zu­stel­len, da sich diese Men­schen zwangs­läu­fig besser mit der Um­ge­bung und den je­wei­li­gen Ge­pflo­gen­hei­ten und Sitten aus­kennen." S. 233

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10. Oktober 2020

Reisen

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