Kassiber | |||||
|
|||||
Der Berg der Liebe. Es herrschte Unruhe im Christentum des 12. und der folgenden Jahrhunderte. Der Klerus fühlte sich durch diverse Bewegungen aus dem Volk und den niederen Rängen der Kirche in seinem Selbstverständnis in Frage gestellt. Kritisiert wurde vor allem der Pomp und der moralische Verfall, Ausschweifungen jeglicher Art, Postenschacher und so manches mehr. Das einfache Volk, aber auch Teile des Adels, sehnte sich nach der Erfüllung der christlichen Urprinzipien, Laien und einfache Mönche zogen durch die Länder und propagierten ein Leben in Armut und Bescheidenheit. Auch viele Frauen schlossen sich diesen Bewegungen an, und es bildeten sich Gemeinschaften (die Beginen z.B.), in denen Frauen zusammen wohnten, zusammen arbeiteten und sich der Betreuung der Armen und Kranken widmeten unter dem freiwilligen Gelübde von Armut und Keuschheit. Aus diesem Milieu entwickelte sich ein Selbstverständnis, aus dem heraus Frauen die religiösen Schriften in ihren jeweiligen Landessprachen lasen und interpretierten, und immer wieder gab es Persönlichkeiten, die ihre Auslegung der Lehre öffentlich verkündeten. Die Kirche bemühte sich um eine Kanalisierung dieser Bewegungen, indem sie einzelne Gruppen an bereits bestehende Orden anzubinden versuchte, andere der Häresie bezichtigte und entsprechend verfolgte. Helga Unger hat 5 Frauen aus dieser Epoche ausgewählt, die ihr durch ihre mystischen Erlebnisse und Verkündigungen als exemplarisch für die Vielfalt des Phänomens erscheinen: Hadewijch (lebte im 13. Jahrhundert in Brabant), Mechthild von Magdeburg (ca 1207 bis 1282), Margarete Porete (ca. 1250 bis 1310), Birgitta von Schweden (1303 bis 1373) und Katharina von Siena (1347 bis 1380). Jeder dieser Mystikerinnen ist ein eigenes Kapitel gewidmet, das mit biographischen Angaben und Erläuterungen zur Rezeption ihrer Schriften beginnt, um dann ausführlich aus den Texten zu zitieren. Zentrales Thema der mystischen Visionen ist die Liebe ("Minne"), die nicht selten auf ekstatische Weise erlebt wird [1]. Die unio mystica, die Vereinigung mit Christus* oder gar Gott, wird (auch) als physische Erfahrung benannt, als eine Erfahrung, und dessen sind sich die Mystikerinnen bewusst, die jenseits des Beschreibbaren liegt. Sie versuchen es dennoch und ihre Visionen gehen häufig über das kirchliche Verständnis der Lehre Christi weit hinaus. Margarete Porete wurde als Häretikerin auf dem Scheiterhaufen verbrannt, Birgitta von Schweden und Katharina von Siena hingegen werden später heilig gesprochen. * "Die Gottesmutter Maria gab ihrem Sohn Katharinas Hand, der ihr an den Finger einen wunderbaren Ring zum Zeichen der Vermählung steckte, der nur ihr zeitlebens sichtbar war." S. 220 [2] Als Quelle gibt Helga Unger den ersten Biographen Katharinas, Raimund von Capua (Das Leben der heiligen Katharina von Siena), an. Befremdlich mag es heute erscheinen, dass es sich bei diesem Ring um die heilige Vorhaut des Herrn (sanctum praeputium) gehandelt haben soll. [3] ---------------------------- 1. "Mein Herz und meine Adern und alle meine Glieder schütterten und bebten vor Begierde, und wie mir schon oft gewesen war, so wütend und schrecklich war mir zumute, daß ich glaubte, ich sei meinem Geliebten nicht genug und mein Geliebter erfülle mich nicht ganz: so müsse ich ganz gegen mich selbst wütend sterben und sterbend gegen mich wüten." S. 44. Unger zitiert hier aus Hadewijchs Vision VII. 2. Ebenfalls unsichtbar blieben die Wundmale Christi, die sie am 1. April (kein Scherz) 1375 während einer Messe in Pisa empfangen hatte. S. 222 3. A.J. Dunning in einem Essay über Anorexia religiosa: "Präzise Zählungen Interessierter haben inzwischen nicht weniger als neunzehn Orte ergeben, an denen Christi Vorhaut bewahrt wird." (in: Extreme. Betrachtungen zum menschlichen Verhalten. S. 264) ---------------------------- 19. Oktober 2022 → Religion |
|||||
Gelesen : Weiteres : Impressum |