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Richard Wagner: Herr Parkinson Richard Wagner
Herr Parkinson
Albrecht Knaus Verlag 2015, 144 Seiten
ISBN 978-3-8135-0653-2

Das rechte Bein zuckt. Manch­mal. Dann häu­fi­ger. Schließ­lich lässt es sich nicht mehr ver­ber­gen, Ri­chard Wag­ner geht zum Arzt. Der über­weist zum Neu­ro­lo­gen. CT. Dia­gno­se: Mor­bus Par­kin­son.

Die Symptome mehren sich, leich­ter Taumel, Gleich­ge­wichts­stö­run­gen hin und wie­der. Aber muss es wirklich Par­kin­son sein? Wag­ner igno­riert die Krank­heit, hofft, bis bei­des nicht mehr mög­lich ist. Er ist jetzt 51 und riecht nichts mehr, ist erfüllt von rast­lo­ser Un­ru­he.

Die Medikamente wir­ken, min­dern die Symp­to­me: Eu­pho­rie! Aber auch Physio­the­ra­pie kann nicht verhindern, dass die Bes­se­rung nur vo­rü­ber­ge­hend ist. Das Ge­dächt­nis lässt nach, auf ei­nem Flug­hafen be­kommt er den Arm nicht mehr hoch ge­nug, um Geld in den Ge­trän­ke­au­to­ma­ten zu werfen, ist zu kei­nem Schritt mehr fä­hig. Er hat sich über­schätzt.

Krankenhaus, an­schlie­ßend Re­ha. Briefe schrei­ben ist nicht mehr mög­lich. Stimm­ver­sa­gen, Stür­ze. Aber er lebt: "Du stirbst nicht an der Krank­heit, du stirbst an ihren Fol­gen und an den Folgen der Ne­ben­wir­kun­gen der Medi­ka­men­te." (S. 140)

Wagners lakonischer Text über sei­ne Er­kran­kung und de­ren Ver­lauf gibt nicht nur Aus­kunft über sein in­di­vi­duel­les Schick­sal, er beschreibt auch die His­to­rie der Krank­heit und der Ver­su­che me­di­ka­men­tös Ein­fluss zu nehmen auf die Vor­gän­ge im Gehirn, die die Symp­tome be­din­gen. Herr Par­kin­son ist Teil einer Ver­suchs­an­ord­nung, de­ren Pro­band mit Schre­cken den schwin­den­den Ein­fluss des Ge­hirns auf seine Kör­per­funk­tio­nen be­ob­ach­tet und er­lei­det. Sti­lis­tisch wider­spie­gelt der Text weit­gehend die irri­tier­te Körper­motorik. Sar­kas­mus und Ironie ent­spre­chen dem Be­fin­den des Au­tors auf dem Weg immer tiefer in den Schlund der Krank­heit.

"Das Syndrom der ru­he­lo­sen Bei­ne. Als ginge es bloß um die Bei­ne, und nicht auch um den Kopf, der angeblich al­les kon­trol­liert, aber kaum etwas un­ter Kon­trol­le hat. Fest steht, dass das Hirn um ei­ni­ges grö­ßer ist, als für die mensch­li­che Auf­klä­rungs­tä­tig­keit nötig wä­re. Was aber in diesen über­schüs­si­gen Ter­ri­to­rien pas­siert, weiß bis heu­te kein Neu­ro­lo­ge zu sa­gen." S. 17

"Jede Krankheit hat ihre me­ta­phy­si­sche Auf­la­dung. Aber nicht durch ih­re Mani­fes­ta­tio­nen und Ver­hal­tens­weisen, son­dern durch deren Wahr­neh­mung." S. 28

"Wer wüsste nicht, dass die Ver­nunft, wenn es um einen selbst geht, das Letzte ist, auf das man sich verlässt. Sie ist viel­mehr das Erste, wo­rauf man zu ver­zich­ten bereit wä­re." S. 36

"Ich werde zwar ab und zu nach meiner Mei­nung ge­fragt, aber die Ant­wort will kaum ei­ner wis­sen. Es ist, als hätte der Be­su­cher sich nach mei­nem Be­fin­den er­kun­digt und da­rauf­hin das Thema ge­wech­selt. So sprechen Er­wach­se­ne mit Kin­dern und bald da­nach auch mit ihren El­tern." S. 77

"Herr Parkinson verwirrt den Kör­per und lässt den Kopf zu­schau­en." S. 99

"Die Frage aber ist nicht, wie lan­ge man lebt, son­dern wie man so lange leben kann." S. 114

"Es gibt Krankheiten, von de­nen der Arzt et­was ver­steht, und Krank­hei­ten, die er beob­ach­tet. Bei den ei­nen weiß er, wo­her die Symp­to­me rühren, bei den anderen erkennt er bloß ihre Spur." S. 122

"Der Parkinson ist eine Krank­heit für Einzel­gän­ger. Er lässt sich ver­schwei­gen, sogar ver­leug­nen. Bis er alles in der Hand hat und alles be­stimmt, bis der Pa­tient eines Tages vor al­ler Au­gen aus­ei­nan­der­fällt." S. 123

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18. September 2020

Biographisches

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