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Autoren Glossen Lyrik

Christine Wunnicke : Die Kunst der Bestimmung Christine Wunnicke
Die Kunst der Be­stim­mung. Roman.
Kindler Verlag 2003, 302 Sei­ten
ISBN 3-463-40450-8

Aus den Tiefen Lapp­lands taucht ei­nes Ta­ges im Jahr 1679 ein bär­ti­ger und et­was ver­wahr­los­ter Mann in ei­nem klei­nen Ort auf. Er führt ei­nen Eis­block mit sich, in dem ein Mensch zu er­ken­nen ist. In 15 Ka­pi­teln (um­schlos­sen von ei­nem Pro- und ei­nem Epi­log) wird er­zählt, wie es zu die­sem Er­eig­nis ge­kom­men ist, um am En­de das gro­ße Ge­heim­nis der Be­stim­mung ei­nes Men­schen in An­griff zu neh­men.

Der schwedische Pro­fes­sor Dr. Simon Chry­san­der, ein Meis­ter der Bestimmung und Ka­ta­lo­gi­sie­rung [1], wird an die Royal So­ciety be­ru­fen, um dort die cha­o­ti­sche na­tur­kund­li­che Samm­lung zu ord­nen und unklare Objekte zu be­stim­men. Bei ei­nem Bor­dell­be­such trifft er auf Lucy, die ihn irritiert und fas­zi­niert. Sie möch­te von ihm be­stimmt werden, was ihm aber ganz und gar un­mög­lich ist.

Lucy ist Lucius Lawes, Earl of Fearnall, mit ei­nem Faible für Kos­tü­mie­rung, die gerne auch die Gren­zen der Ge­schlech­ter über­schrei­tet. Lucius, dem der Pro­fes­sor ein ebenso gro­ßes Rät­sel ist wie er dem Pro­fessor, dringt in des­sen Wohnung ein, durch­sucht sie und wird da­bei ertappt. Er gibt vor, mons­trö­se Ver­wach­sun­gen an seinem Kör­per zu ha­ben, die er un­ter­sucht wissen möch­te. Zu diesem Zweck entkleidet er sich, es kommt zu einer in­ti­men Um­ar­mung mit dem Pro­fes­sor, die von Kauppi, der als "wildes" Mit­bring­sel des Pro­fes­sors aus Lapp­land be­schrie­ben wird, gestört wird, er verweist den Earl kur­zer­hand des Hau­ses.

Lucius, dem König Charles II. nahe stehend und des­halb über Ein­fluss und große Geld­mit­tel ver­fü­gend, ver­schafft dem Pro­fes­sor zusätzlichen Raum, um die naturkundliche Samm­lung der Royal So­cie­ty großzügig zu er­wei­tern. Aber es kommt zu Span­nun­gen zwi­schen den beiden, die in einem Duell en­den, in dem sich Lucius schließ­lich in den De­gen Chrysanders wirft und schwer verletzt wird. Chry­san­der rettet ihm das Le­ben und be­treut und pflegt ihn wäh­rend seines lang­wie­ri­gen Ge­ne­sungs­pro­zes­ses. Lucy, in der Wahr­neh­mung Chry­san­ders, legt sich eines nachts nackt zu ihm ins Bett, was auch in spä­te­ren Näch­ten immer wieder pas­siert.

Kauppi beobachtet den ver­stor­be­nen Vater von Lu­cius, der nachts er­scheint, um sei­ne alte Uni­form und Säbel aus ei­nem Schrank zu räu­men. Ei­nes Tages er­greift Lu­cius Uniform und Sä­bel und reitet in Be­glei­tung von Kaup­pi da­von. Chry­san­der ist in hel­ler Auf­regung und sucht beide, wäh­rend Lu­cius ver­sucht, das Phä­no­men "Lie­be" er­klärt zu bekommen. Chry­san­der findet die bei­den und bittet Lucy mit wachsender Ver­zweif­lung zu ihm zurück zu kommen.

Der Earl und Kauppi zie­hen weiter Richtung Lapp­land,und wie­der fin­det Chrysander sie. Lu­cy/­Lucius und Chry­san­der le­ben schließlich zu­sam­men. Aber auch das ist nicht von Dau­er, Lu­cius zieht weiter nach Nor­den, wo er eines Ta­ges er­friert. Chrysander fin­det ihn erneut und bringt ihn in einem Eis­block nach Uppsala, um ihn in einem Labor auf dem Se­zier­tisch auf­zu­tauen.

Parallel und immer wie­der in den Text ein­ge­floch­ten er­fah­ren wir von einem Moos, das den Na­men Chry­san­ders trägt und nicht wächst, noch über­haupt ei­ne Veränderung er­fährt. Bis es dann doch mit­ten in den Wirren der Be­zie­hung zwi­schen Lu­cius und dem Pro­fes­sor zu blühen be­ginnt, um am Ende zu Staub zu zerfallen.

Rasant und bizarr, an­rüh­rend und irritierend, ein Le­se­ver­gnü­gen mit vie­len skurrilen Cha­rak­te­ren und in­te­res­san­ten De­tails, mit sprachlicher Vir­tuo­si­tät geschrieben.

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1. Ein fiktiver Vorgänger von Carl von Linné, dem schwe­di­schen Na­tur­for­scher, zu dem es in dem Ro­man einige Bezüge gibt.

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7. Dezember 2022

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