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Raul Zelik Der bewaffnete Freund Raul Zelik
Der bewaffnete Freund. Roman.
Blumenbar-Verlag 2007. 287 Sei­ten, ISBN 978-3-936738-27-8

Alex, ein Berliner Wis­sen­schaft­ler, reist nach X, einer Stadt im Bas­ken­land (es han­delt sich da­bei um Bil­bao), um an einem For­schungs­pro­jekt über eu­ro­pä­ische Identität zu ar­bei­ten. Zu­vor reist er mit sei­nem Ge­lieb­ten Rab­bee durch Spa­nien, trifft sei­ne Ex­freun­din und sei­ne Toch­ter beim Va­ter der Frau, der sich in Spa­nien eine al­ter­na­ti­ve Exis­tenz auf­ge­baut hat. Nach und nach rei­sen alle ab und er ver­bringt ei­ni­ge Zeit bei der Fa­mi­lie einer Be­kann­ten, die ei­ne bäu­er­li­che Exis­tenz in den Ber­gen um X führt. Ein jun­ger Mann aus der Fa­mi­lie ist we­gen der Zu­ge­hö­rig­keit zu einer il­le­ga­len Or­ga­ni­sa­tion in­haf­tiert. Alex er­fährt von den bru­ta­len Me­tho­den, mit de­nen staat­li­che Or­ga­ne ge­gen ver­meint­li­che Mit­glie­der die­ser Or­ga­ni­sa­tion vor­ge­hen. Spon­tan bie­tet er Hil­fe an.

Wieder zurück in X blickt Alex ein vertrautes Ge­sicht von den Ti­tel­sei­ten der Ta­ges­zei­tun­gen ent­ge­gen. Es ist Zu­bie­ta, ein Freund, den Alex vor ca. 20 Jah­ren bei einem sei­ner vie­len Auf­ent­hal­te in Spa­nien und im Bas­ken­land ken­nen­ge­lernt hat­te, der in­zwi­schen zu ei­nem Füh­rungs­ka­der der "un­sag­ba­ren Or­ga­ni­sa­tion" auf­ge­stie­gen sein soll und seit vie­len Jah­ren im Un­ter­grund lebt. Zeugen wol­len ihn in Spa­nien gesehen ha­ben, die Fahn­dung nach ihm wird in­ten­si­viert.

Wenig später wird Alex von ei­nem Un­be­kann­ten an sein Hil­fe­an­ge­bot er­in­nert und mit der Fra­ge kon­fron­tiert, ob er be­reit sei, den Freund aus ei­nem Ver­steck im Sü­den Frank­reichs an ei­nen be­stimm­ten Ort in Spa­nien zu fah­ren. Alex lässt sich da­rauf ein und ne­ben der Freu­de, den Freund nach langer Zeit wie­der­zu­se­hen, öffnen sich ihm Schleu­sen der Angst, der Pa­ra­noia und der Zwei­fel.

Raul Zelik erörtert in Ge­sprä­chen der Pro­ta­go­nis­ten und Selbst­re­fle­xio­nen des Er­zäh­lers die un­ter­schied­li­chen Po­si­tio­nen des Konflikts im Bas­ken­land und der Pro­ble­me, die eine glo­ba­li­sier­te Welt für kul­tu­rel­le Identität mit sich brin­gen kön­nen. Alex sym­pa­thi­siert ei­ner­seits mit den Zie­len der "un­sag­ba­ren Or­ga­ni­sa­tion", bei der es sich ganz of­fen­sicht­lich um die ETA han­delt, an­de­rer­seits lehnt er aber die Me­tho­den ab, die bei die­sem Kampf an­ge­wen­det wer­den, eben­so wie das Vor­ge­hen des Staa­tes im Kampf ge­gen den "Ter­ro­ris­mus" der Se­pa­ra­tis­ten. Ist es ein Ana­chro­nis­mus, die "mar­gi­na­le Spra­che", wie das Bas­ki­sche von of­fi­ziel­ler Stel­le ge­nannt wird, wie­der ein­füh­ren zu wol­len, Zie­len an­zu­hän­gen, wie sie in den 70er und frühen 80er Jahren Po­pu­la­ri­tät ge­nos­sen hat­ten, in­zwi­schen aber doch von der Zeit über­holt zu sein schei­nen? Und diese Zie­le mit Mord und Er­pres­sung (ge­meint ist hier die Re­vo­lu­tions­steu­er, die die ETA von um­satz­star­ken Fir­men er­ho­ben hat) ver­wirk­li­chen zu wollen? Hat Rab­bee Recht, der die ETA mit der Rück­stän­dig­keit des IS auf ei­ne Stu­fe stellt, oder doch Zu­bie­ta, der für die kul­tu­rel­le Iden­ti­tät und die Selbst­ver­wirk­li­chung und Un­ab­hän­gig­keit ei­nes (sei­nes) Vol­kes Op­fer in Kauf nimmt, die nicht nur ihn und sei­ne Kampf­ge­nos­sen be­tref­fen, indem sie ge­fol­tert, ge­tö­tet oder für lan­ge Zeit in­haf­tiert wer­den. Son­dern eben auch an­de­re, die ih­ren Bom­ben oder ge­ziel­ten Tö­tun­gen zum Opfer fal­len?

Neben der spannend, aber auch sehr re­flek­tiert ge­schrie­be­nen Hand­lung geht es vor al­lem um Fra­gen der Iden­ti­tät. Alex er­fährt in sei­nem täg­li­chen Le­ben die Kom­ple­xi­tät des Iden­ti­täts­pro­blems, das ei­gent­lich The­ma sei­nes For­schungs­pro­jekts hät­te sein sol­len. Er selbst hat ei­ne Ver­än­de­rung sei­ner se­xu­el­len Aus­rich­tung erlebt und wird sich seiner Un­zu­läng­lich­keit als Vater be­wusst. Freunde und Fa­mi­lie le­ben ihre un­ter­schied­li­chen Iden­ti­tä­ten, schein­bar oh­ne da­mit zu ha­dern, und er lebt in dem Kon­flikt der mul­tip­len Mög­lich­kei­ten, sich zu de­fi­nie­ren und aus­zu­le­ben ei­ner­seits und dem Kampf sei­nes Freun­des und des­sen Or­ga­ni­sa­tion nach einer klar de­fi­nier­ten Iden­ti­tät als Volks- und Sprach­ge­mein­schaft an­de­rer­seits, wäh­rend im Rest der Welt ein­deu­ti­ge Iden­ti­tä­ten in der Viel­falt der Mög­lich­kei­ten ver­lo­ren zu gehen scheinen.

Komplexe Themen auf sprach­lich hohem Ni­veau le­sens­wert prä­sen­tiert. Ich war be­geis­tert.

Raul Zelik (*1968) ist Au­tor von Romanen und Sach­bü­chern, auch ar­bei­tet und lehrt er als Po­li­tik­wis­sen­schaft­ler. Er über­setzt aus dem Bas­ki­schen und Spa­ni­schen, seine jour­na­lis­ti­schen Pu­bli­ka­tio­nen sind um­fang­reich. Ei­nen gu­ten Über­blick bie­tet seine Website: https://www.raulzelik.net


22. August 2024

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