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Der Komponist und Dirigent Hans Zender (1936 – 2019) versammelt in diesem Bändchen Aufsätze, Nachrufe [1], ein Interview, vor allem aber Reflexionen darüber, wie wir uns dem Wesen der Musik, die für ihn das Wesen des Lebens schlechthin ausdrücken kann, annähern können. Jenseits der sprachlich vermittelbaren Welt liegen Bereiche, die empfindbar und auch nonverbal zu kommunizieren sind, die sich uns aber zunehmend entzogen haben. Christentum und Buddhismus, Mythen und Meditation können behilflich sein, den Widerspruch zwischen Logos und Pathos zu überwinden, ein sinnliches Wahrnehmen zu entwickeln, das kritisches Denken nicht als Gegensatz empfindet, sondern es in sich aufgenommen hat. Musik kann dazu nicht nur Hilfsmittel sein, sondern auch der konzentrierte Ausdruck dieser Bemühungen. "Musik ist ein Denken mit den Sinnen." S. 13 Dazu müssen wir hören lernen. Entspannt uns öffnen, eigene Erfahrungen, Erinnerungen und Konventionen ausschließen. Wir müssen uns befreien von den Geräuschkulissen, die in Kaufhäusern und Aufzügen das Gehör abstumpfen. Befreien auch von der Beliebigkeit nebeneinander existierender vielfältiger Musikformen und hin zu einem Verständnis der Vielfalt als ein sich wechselseitig beeinflussendes Inspirationsfeld kommen. "Das musikalische Denken scheint in einzigartiger Weise die rationale mit der irrationalen Seite unseres Geistes zu verbinden." S. 17 Im Gespräch mit dem Mediziner und Psychoanalytiker Johannes Picht über Zenders kompositorische Interpretationen zu Beethovens Diabelli-Variationen wird deutlich, wie sehr für Zender die Musik als Zeit im Raum wirkt und wie sich Zeit als Raum ausdrücken kann. In seinem "Hör- und Denk-Tagebuch" reflektiert Zender über das dialektische Verhältnis von Fühlen und Denken, von Innen und Außen, von Ich und Nicht-Ich, von Gott und Welt. Das Verständnis all dessen muss in der Auflösung der Gegensätze bestehen, im ineinander Aufgehen der Widersprüche, im denkenden Fühlen. Die Moderne hat uns vor neue Probleme gestellt, die exemplarisch durch die Arbeiten von Georg Picht, Jean Gebser, Joyce, Proust, Messiaen oder Bernd Alois Zimmermann ausgedrückt werden. In einem Exkurs über das Dirigieren [2] thematisiert Zender die Schwierigkeiten bei der Findung des authentischen Tempos und der Frage, ob es während des Stückes beibehalten oder variiert werden soll. Sein Fazit: Ein unlösbares Problem, das nur zu lösen ist, indem man erkennt, dass es unlösbar ist. Das letzte Kapitel ist der Versuch eines Vergleichs zwischen dem biblischen Johannesprolog und dem buddhistischen Hannya Shingyo, in dem ein Subtext die Einheit im Kern alles Seienden erkennt. "Wir leben in einer kulturellen Situation, in der alle Grundbegriffe und Zeichen, welche die einzelnen Kulturen bisher getragen haben, hinterfragt und neu formuliert werden." S. 134 Und: "Man kann das Phänomen 'Kultur' nur noch als Vielfalt wahrnehmen; wer von einer 'Leitkultur' oder übergeordneten Kultur sprechen wollte, würde der Wirklichkeit nicht gerecht – abgesehen davon, daß er sich einem Fortschritt entgegenstellen würde, der nach verstehender Integration strebt." S. 134 "Die Musik hat uns etwas zu sagen, was nicht anders als eben durch Musik zu sagen ist." S. 20 "… der Künstler arbeitet wie die Natur, welche niemals Kopien liefert, …" S. 23 "Wir müssen das Hören neu entdecken, das Hören aber nicht einschränken auf das verstehende Hören im Sinn von bloßer formaler Analyse, sondern im Sinne des Sich-Öffnens für das Unbekannte, noch vor uns Liegende." S. 85 ---------------------------- 1. Für Heinz-Klaus Metzger und Pierre Boulez. "Metzger nahm sich Zeit, begnügte sich für ein Urteil nicht mit einem einmaligen Hören, befragte das Stück, statt es wie ein Insekt aufzuspießen und zu zergliedern." S. 52 2. "Ein Dirigent muß heute vor allem die verschiedenen Stimmen unserer Zeit hören lernen: durch das Hören verstehen, um sie dann verstehend wieder hörbar machen zu können." S. 68 ---------------------------- 24. Oktober 2020 → Musik |
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