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Jean Echenoz: Ravel Jean Echenoz
Ravel. Roman. Übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel
Berlin Verlag 2007, 110 Seiten
ISBN 978-3-8270-0693-6

Auch wenn die äuße­ren Le­bens­da­ten, die in dem Ro­man von Eche­noz ver­wen­det wer­den, de­nen des Kom­po­nis­ten Mau­rice Ra­vel ent­spre­chen, se­hen wir nur ei­ne von vielen Mög­lich­kei­ten, die die letzten 10 Jahre des Kom­po­nis­ten hät­ten sein kön­nen. Sehr de­tail­liert betrachtet und be­schreibt Echenoz Person und Ge­sche­hen, das schon bald erste Hin­wei­se auf das Ende liefert, dem Ravel auch im wirklichen Le­ben entgegen geht: Morbus Pick [1].

Aber zuerst erleben wir die triumphale Tournee durch die USA; Überfahrt, Tournee und Rück­fahrt machen schon die Hälf­te des schön ge­mach­ten Büchleins aus. Er genießt die Auf­merk­sam­keit und den Lu­xus, auch wenn er sich kaum in der fremden Sprache ver­stän­digen kann. Sind Schlaf­lo­sig­keit und Erschöpfung schon Symp­tome der Krankheit oder Aus­druck seiner Rast­lo­sig­keit? Zu­rück in Frankreich wieder Kom­po­si­tions­ver­su­che, von de­nen viele nicht zu Ende geführt wer­den, aber dann: Bolero! Sein bekann­testes und immer noch häufig auf­ge­führ­tes Stück. Är­ger­lich dagegen das Kla­vier­kon­zert für die linke Hand, das er als Auftragsarbeit für Paul Wittgenstein [2] kom­po­niert, der im Ersten Weltkrieg sei­nen rechten Arm verloren hat. Der näm­lich verändert das Stück, da es ihm zu wenig geeignet scheint, seine Vir­tuosi­tät am Kla­vier zu de­mons­trie­ren.

Wieder Tourneen, diesmal in­ner­halb Europas, die keine rech­ten Erfolge sind, Urlaube, um sich von den Strapazen zu er­ho­len, und immer häufiger ver­lässt ihn das Gedächtnis, ver­liert er die Kontrolle über sei­ne Bewegungen. Freunde, die ihn zu Konzerten begleiten, fragt er nach dem Kom­po­nis­ten, wenn seine eigenen Werke auf­ge­führt werden. Aber sie ge­fal­len ihm nach wie vor. Am Ende eine Operation, man öff­net sei­ne Schädeldecke, ver­mu­tet einen Tumor, findet kei­nen, 10 Ta­ge später ist er tot.

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1. Morbus Pick wird heute als fron­to­temporale Demenz be­zeich­net. Es ist eine neuro­de­gene­rative Er­kran­kung, die Stirn- und Schlä­fen­lap­pen des Gehirns zerstört. Die Krank­heit schreitet langsam vor­an und führt zu Per­sön­lich­keits­ver­än­de­run­gen sowie – im spä­teren Ver­lauf – zu Sprach- und Ge­dächt­nis­stö­run­gen.

2. Paul Wittgenstein (1887 – 1961), der Bruder des Phi­lo­so­phen Lud­wig Wittgenstein, gab bei vie­len zeit­ge­nössischen Kom­po­nis­ten Kla­vier­wer­ke für die linke Hand in Auf­trag. Unter anderem bei Brit­ten, Go­dowsky, Hindemith, Korn­gold, Prokofjew, Richard Strauss. Er selbst veröffentlichte 1957 sein drei­bän­diges School for the Left Hand.

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29. April 2020

Musik

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