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Andrea Giovene Das Haus der Häuser Andrea Giovene
Das Haus der Häuser. Ro­man.
Aus dem Italienischen von Moshe Kahn. Mit einem Nach­wort von Ulrike Vos­win­ckel.
Osburg Verlag 2010, 357 Sei­ten, ISBN 978-3-940731-36-4

Giuliano Sansevero tritt die Erb­schaft seines ver­stor­be­nen Groß­va­ters Don Michele an, der ihm Grund und Bo­den in Licudi hin­ter­las­sen hat, ei­nem Ort in Ka­la­bri­en mit we­ni­gen hun­dert Ein­woh­nern. In­mit­ten der Oli­ven­plan­ta­ge, die gro­ße Teile sei­nes Grund­stücks be­deckt, soll das Haus ent­ste­hen, in dem er woh­nen wird. Die Ver­hält­nis­se im Ort sind ar­cha­isch, das Bau­vor­ha­ben ent­wi­ckelt sich zu ei­nem Pro­jekt, an dem der gan­ze Ort teil­hat. Esel werden aus­ge­lie­hen, 20.000 Stei­ne müs­sen be­wegt wer­den, die meis­ten wer­den von Frauen auf ih­ren Köp­fen trans­por­tiert, der Bau­meis­ter Ja­na­ro Mam­mo­la un­ter­bricht die Ar­bei­ten an an­de­ren Häu­sern, um sich ganz dem Haus der Häu­ser zu wid­men.

Doch es kommt immer wie­der zu Un­ter­bre­chun­gen. So müs­sen die Oliven geerntet wer­den, von de­nen der Ort – ab­ge­se­hen vom Fisch­fang – lebt, und die Be­schrei­bung die­ser Ern­te ent­hält Ele­men­te, die sich durch den ge­sam­ten Text zie­hen. Seit Jahr­hun­der­ten wer­den die sel­ben Ar­beits­ab­läu­fe ver­rich­tet, die Men­schen sind nur un­zu­rei­chend vor den Ele­men­ten ge­schützt, die Hit­ze und das Meer be­stim­men über Wohl und We­he. Der nächs­te Ort ist nur über einen Esels­pfad zu er­rei­chen, der Au­tor ver­wen­det im­mer wie­der an­ti­ke Bil­der und As­so­zi­a­tio­nen, um die Rück­stän­dig­keit ei­ner­seits, an­de­rer­seits aber auch die Subs­tanz die­ser Ge­mein­schaft zu er­fas­sen. In die­ser At­mos­phä­re wird Giu­lia­no vom Be­ob­ach­ter zum ak­zep­tier­ten Mit­glied und fügt sich in das Ge­mein­schafts­we­sen ent­spre­chend sei­ner so­zia­len Po­si­tion ein. Er ist Ar­beit­ge­ber und Wohl­tä­ter, Pa­tri­arch und Rat­ge­ber und be­greift die Dy­na­mik und Kraft des Or­tes und der Men­schen im­mer bes­ser.

Giulianos Denken und Emp­fin­den ist von die­sen au­ßer­ge­wöhn­li­chen Um­stän­den durch­drun­gen als er der 12-jäh­ri­gen Arri­chet­ta be­geg­net. Sie wird ihm zur Phan­tas­ma­go­rie ei­ner an­ti­ken Göttin. "Ich ha­be eine Nymphe für den Preis einer Schaf­her­de ge­kauft" sin­niert er, nach­dem er vom Vater des Mäd­chens durch ei­nen er­folg­rei­chen Han­del die Er­laub­nis er­hal­ten hat­te, sie zu sich zu neh­men. Doch aus der Ver­eh­rung und Be­wun­de­rung er­wächst ein Be­geh­ren, das Giu­lia­no in im­mer auf­wüh­len­de­re Kon­flik­te stürzt. Und als Don Cali, der reichs­te Mann des Or­tes, ihn bit­tet, sich für ein Stra­ßen­bau­pro­jekt ein­zu­set­zen, das Li­cu­di mit dem nächst grö­ße­ren Ort ver­bin­den soll, nutzt er die Ge­le­gen­heit und ver­lässt Licudi und da­mit auch Ar­ri­chet­ta, be­vor er "die ver­bo­te­ne Gren­ze" über­tre­ten hat­te.

Doch dieser Schritt hat ei­nen Preis, der ihm durch­aus be­wusst ist und ihn in erneute Ge­wis­sens­kon­flik­te stürzt. Die Stra­ße würde das Le­ben der Men­schen in Li­cu­di un­wi­der­ruf­lich ver­än­dern, der Ein­zug des zi­vi­li­sa­to­ri­schen Fort­schritts und seiner Schat­ten­sei­ten all das zer­stö­ren, was ihm in die­sen vier Jahren, die er dort gelebt hat, die Subs­tanz des Le­bens ge­we­sen ist. Ei­ne ar­chäo­lo­gi­sche Aus­gra­bung, die Fund­stü­cke aus der An­ti­ke zu­ta­ge bringt, über­zeugt die Ver­ant­wort­li­chen, die ge­plan­te Stra­ße zu be­wil­li­gen. Es ge­schieht, was zu er­war­ten war: Ge­schäf­te­ma­cher und Spe­ku­lan­ten trei­ben die Gier der Menschen auf die Spit­ze, das so­zia­le Ge­fü­ge wankt, die über Jahr­hun­der­te ge­fes­tig­te Ba­lan­ce ge­rät au­ßer Kon­trol­le. Giu­lia­no ver­lässt den Ort für im­mer. Auf dem Weg nach Nea­pel ver­kün­den Laut­spre­cher­an­la­gen den Ein­tritt Ita­liens in den Zwei­ten Welt­krieg. Es ist der 10. Ju­ni 1940.

Dieser dritte Band der fünf­bän­di­gen "Au­to­bio­gra­phie des Giu­lia­no San­se­ve­ro" erschien 2010 als Ein­zel­band in der deut­schen Über­set­zung von Mo­she Kahn, ei­ne Ver­öf­fent­li­chung der weiteren Bän­de schien zu die­sem Zeit­punkt un­rea­lis­tisch. Der Au­tor war in Deutsch­land völ­lig un­be­kannt, das Risiko für den Ver­lag un­ver­hält­nis­mä­ßig hoch. Ich ver­ste­he, dass es aus­ge­rech­net die­ser dritte Band ge­we­sen ist, der als ein Art Ver­suchs­bal­lon pu­bli­ziert worden ist, denn mei­nem Emp­fin­den nach ist es der bild­träch­tigs­te und vielleicht auch tief­grün­digs­te der fünf Bände. Da ich aber erst die drei ersten Tei­le der "Autobiographie" ge­le­sen ha­be, mag sich die­se Ein­schät­zung noch ändern.

Andrea Giovene (1904-1995) hat­te vor der 'Au­to­bio­gra­fia' nur ei­ni­ge klei­ne­re Werke ver­öf­fent­licht und erlebte, meh­re­re Ver­la­ge hatten das Werk nicht ver­öf­fent­li­chen wollen, schließ­lich den li­te­ra­ri­schen Er­folg dieses an sei­ne eigene Le­bens­ge­schich­te an­ge­lehn­ten um­fang­rei­chen Ro­mans. Der fünf­te Band er­schien 1970 in Ita­lien. Bis zu ei­ner ers­ten deutsch­spra­chi­gen Aus­ga­be soll­ten weitere 40 Jah­re ver­ge­hen, die voll­stän­di­ge 'Au­to­bio­gra­phie' liegt erst seit 2023 vor.


21. September 2024

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