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"Das andere Venedig" ist kein alternativer Reiseführer, sondern eine Exkursion in die Morphologie dieser versinkenden Stadt und ihrer Lagune. Der Autor folgt den Geschichten, die die Archäologie, die Etymologie, die Zeichen an den Mauern und die Platten der Wege geschrieben haben. Er spürt der Botanik nach, der Migration von Flora und Fauna, den Erinnerungen noch lebender Menschen und uralter Karten, den Legenden um Wirtshäuser, in denen keins der Getränke mehr angeboten wird, die über Jahrhunderte den Bewohnern der Stadt und ihren Gästen so köstlich gemundet haben. Wie auch die vielen Brotsorten, für die die Stadt weit über ihre Grenzen hinaus bekannt gewesen ist. Inseln, die fernab jeder touristischen Route Friedhöfe verbergen, deren Grabsteine längst überwuchert und vergessen sind, Gemäuer, in denen einst die geistig Abweichenden oder an Lepra erkrankten der Öffentlichkeit entzogen wurden, wie die von Mauern umschlossenen Gärten, in denen Fremde nicht willkommen sind. Die wechselnden Winde, von denen jeder einen ganz besonderen Namen in der Sprache der Venezianer erhalten hat, all das will Matvejevic vor dem Vergessen bewahren, er erschließt das Wesen dieser Stadt über das Studium ihrer Details. Und er macht das auf literarisch ansprechende Weise, die Lektüre dieses kleinen Buches ist eine reine Freude. Fast. Denn die vielen Reproduktionen historischer Stadtansichten sind von einer ärgerlichen Qualität. Das Vorwort von Raffaele La Capria gibt Einblick in die Arbeitsweise des Autors und leitet geschickt in den folgenden Text über: "Neapel wie auch Venedig versickerten langsam und verschwanden unter den Darstellungen, die über sie verfasst wurden, die unendlichen Beschreibungen führten dazu, dass all das, was das Auge erst erblicken sollte, bereits zum déjà vu geworden war; sie ersetzten vielmehr das, was das Auge sehen wollte, sie brannten sich in die Retina ein und bestimmten den Blick selbst, sodass heute die dargestellte Wirklichkeit, der Allgemeinplatz dieser Wirklichkeit zum einzig besuchten Ort wurde – und die Wirklichkeit wurde überflügelt von ihrer eigenen Darstellung." S. 5 11. Juli 2022 → Reisen |
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