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Der Band versammelt 17 Essays, die Steiner zwischen 1967 und 1992 im "New Yorker" veröffentlicht hat. Es sind Lektüren der unterschiedlichsten Art, angefangen mit der Biografie des englischen Spions und Kunsthistorikers Anthony Blunt über Autoren wie Brecht, Céline, Salvatore Satta, Beckett, Broch, Thomas Bernhard und Paul Celan bis zu Karl Kraus, Simone Weil, Bertrand Russell, Canetti, Benjamin, Scholem, Cioran, Lévi-Strauss, Arthur Koestler und dem verstörenden Essay über Hitlers Architekten und Rüstungsminister Albert Speer. Abschließend eine kleine Abhandlung zum Thema Schach in der Literatur (Zweig, Nabokov). Es sind ausschweifende (nicht abschweifende) Texte, die das Umfeld des Autors und seines Werks durchpflügen, um sich schließlich der eigentlichen Lektüre zuzuwenden. Erhellende Reflexionen – wie immer bei George Steiner – neben Passagen, die zuweilen irritieren. Brechts schwieriges Verhältnis zur Sowjetunion und zur DDR wird anhand einer Ausgabe seiner Briefe in den USA thematisiert, einer der längeren Essays in diesem Band. Vermutlich am exotischsten für seine amerikanische Leserschaft dürfte der luzide Text über Paul Celan sein, der die zweisprachige Ausgabe einer Auswahl seiner Gedichte zum Anlass nimmt, auf die Tiefenstruktur und Vieldeutigkeit der celanschen Verse hinzuweisen. Irritierend der Essay über den Gentleman-Nazi Albert Speer, dessen Spandauer Tagebücher ihn beeindrucken und berühren. Nach 11 Seiten in diesem Stil kommt dann endlich der Hinweis, der noch keine halbe Seite ausmacht, dass der Mann ein Kriegsverbrecher gewesen ist ("Nicht nur ist Spandau im Vergleich zu Belsen eine Erholungskur..." S. 250). Gänzlich bizarr wird es in dem Essay über Hermann Broch, in dem er zunächst das kulturelle und intellektuelle Panorama Wiens und des deutschsprachigen Raums von der Jahrhundertwende bis in die 30er Jahre zeichnet, um dann Sätze zu formulieren wie: "Wenn 'das Zentrum nicht mehr hielt', dann vielleicht deshalb, weil Psychoanalyse und Atonalität, die sich selbst bestätigende Vorahnung Kafkas oder die philosophisch-linguistischen Untergrabungen eines Mauthner, Kraus oder Wittgenstein sich als zu zersetzend erwiesen." (S. 215f Nun mag man den Begriff "zersetzend" eventuell einer missratenen Übersetzung zuschreiben, sowohl der Autor als auch der Übersetzer werden sich allerdings bewusst gewesen sein, dass das genau der Begriff ist, den die Nazis jüdischen Kultureinflüssen zugeschrieben haben. Liest man dann weiter, bleibt es ungeheuerlich: "War die kritische, zersetzende Gewalt jüdischen Denkens, jüdischer Musik und Literatur in Mitteleuropa nicht auch mitverantwortlich für das, was sie (teilweise) vorhersah?" (S. 216) Ich hatte während der Lektüre den Eindruck, dass Steiners Eitelkeit ihm immer mal die Feder geführt hat bei den Erwähnungen seiner persönlichen Bekanntschaft mit einigen der Autoren, die er in den Essays bespricht und natürlich glänzt er – wie immer – mit seinem enormen Wissen über die kulturellen Zusammenhänge und Hintergründe, weswegen es ja auch – fast immer – ein Genuss ist, ihn zu lesen. Dieses Mal überwiegt allerdings die Irritation. ---------------------------- 5. Juli 2023 → Autoren : George Steiner |
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