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George Steiner Lektüren George Steiner
Im Raum der Stille.
Lektüren.
Übersetzt von Nicolaus Born­horn.
Suhrkamp Verlag 2011, 272 Sei­ten
ISBN 978-3-518-42231-1

Der Band versammelt 17 Es­says, die Steiner zwischen 1967 und 1992 im "New Yor­ker" ver­öf­fent­licht hat. Es sind Lek­tü­ren der un­ter­schied­lichs­ten Art, angefangen mit der Bio­gra­fie des englischen Spi­ons und Kunsthistorikers An­tho­ny Blunt über Autoren wie Brecht, Céline, Salvatore Sat­ta, Beckett, Broch, Thomas Bern­hard und Paul Celan bis zu Karl Kraus, Simone Weil, Bert­rand Russell, Canetti, Ben­ja­min, Scholem, Cioran, Lévi-Strauss, Arthur Koestler und dem ver­stö­ren­den Essay über Hitlers Architekten und Rüs­tungs­mi­nis­ter Albert Speer. Ab­schlie­ßend eine klei­ne Abhandlung zum The­ma Schach in der Literatur (Zweig, Nabokov).

Es sind ausschweifende (nicht abschweifende) Texte, die das Um­feld des Autors und seines Werks durch­pflü­gen, um sich schließ­lich der ei­gent­li­chen Lektüre zu­zu­wen­den. Er­hel­len­de Re­fle­xio­nen – wie immer bei George Stei­ner – neben Pas­sa­gen, die zuweilen ir­ri­tie­ren.

Brechts schwieriges Ver­hält­nis zur Sowjetunion und zur DDR wird anhand einer Aus­ga­be seiner Briefe in den USA the­ma­ti­siert, einer der län­ge­ren Essays in diesem Band. Ver­mut­lich am exo­tischs­ten für seine ame­ri­ka­ni­sche Le­ser­schaft dürfte der lu­zi­de Text über Paul Celan sein, der die zweisprachige Aus­ga­be einer Auswahl sei­ner Gedichte zum Anlass nimmt, auf die Tie­fen­struk­tur und Viel­deu­tig­keit der ce­lan­schen Verse hin­zu­wei­sen.

Irritierend der Essay über den Gentle­man-Nazi Albert Speer, des­sen Spandauer Ta­ge­bü­cher ihn beeindrucken und be­rüh­ren. Nach 11 Seiten in die­sem Stil kommt dann end­lich der Hin­weis, der noch kei­ne halbe Seite ausmacht, dass der Mann ein Kriegs­ver­bre­cher gewesen ist ("Nicht nur ist Span­dau im Vergleich zu Belsen eine Er­ho­lungs­kur..." S. 250).

Gänzlich bizarr wird es in dem Es­say über Hermann Broch, in dem er zunächst das kul­tu­rel­le und intellektuelle Pa­no­ra­ma Wiens und des deutsch­spra­chi­gen Raums von der Jahr­hun­dert­wen­de bis in die 30er Jahre zeichnet, um dann Sät­ze zu for­mu­lie­ren wie: "Wenn 'das Zentrum nicht mehr hielt', dann viel­leicht des­halb, weil Psy­cho­analyse und Atonalität, die sich selbst be­stä­ti­gen­de Vorahnung Kaf­kas oder die phi­lo­so­phisch-lin­gu­is­ti­schen Un­ter­gra­bun­gen eines Mauthner, Kraus oder Wittgenstein sich als zu zer­set­zend erwiesen." (S. 215f

Nun mag man den Begriff "zer­set­zend" eventuell einer miss­ra­te­nen Übersetzung zu­schrei­ben, sowohl der Autor als auch der Übersetzer wer­den sich allerdings bewusst ge­we­sen sein, dass das ge­nau der Be­griff ist, den die Na­zis jü­di­schen Kul­tur­ein­flüs­sen zu­ge­schrie­ben haben. Liest man dann weiter, bleibt es un­ge­heu­er­lich: "War die kri­ti­sche, zer­set­zen­de Ge­walt jü­di­schen Den­kens, jüdischer Mu­sik und Literatur in Mit­tel­eu­ro­pa nicht auch mit­ver­ant­wort­lich für das, was sie (teil­wei­se) vorhersah?" (S. 216)

Ich hatte während der Lektüre den Eindruck, dass Steiners Ei­tel­keit ihm immer mal die Fe­der geführt hat bei den Er­wäh­nun­gen seiner per­sön­li­chen Bekanntschaft mit ei­ni­gen der Au­to­ren, die er in den Es­says bespricht und na­tür­lich glänzt er – wie immer – mit seinem enormen Wissen über die kul­tu­rel­len Zu­sam­men­hän­ge und Hintergründe, wes­we­gen es ja auch – fast im­mer – ein Ge­nuss ist, ihn zu lesen. Die­ses Mal über­wiegt al­ler­dings die Irritation.

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5. Juli 2023

→ Autoren : George Steiner

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