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Horst Karasek 1886 Haymarket Horst Karasek (Hg)
1886, Haymarket
Die deutschen Anar­chis­ten von Chi­ca­go. Re­den und Le­bens­läu­fe.
Verlag Klaus Wagen­bach 1975, 190 Sei­ten
ISBN 3 8031 2011 x

Wir feiern den 1. Mai als "Tag der Ar­beit" und kaum noch et­was er­in­nert daran, dass die­ser Tag einst als "In­ter­na­ti­o­na­ler Kampf­tag der Ar­bei­ter­klasse" be­gan­gen wur­de. Das Da­tum geht zurück auf den 1. Mai 1886, dem Tag, als in den USA meh­re­re hun­dert­tau­send Ar­bei­ter in einen mehr­tägigen Streik zur Ein­füh­rung des Acht­stun­den­ta­ges ge­tre­ten wa­ren.

Die Arbeitskämpfe in den USA hat­ten zu dieser Zeit an Här­te zu­ge­nom­men, immer wieder kam es zu Nieder­schla­gun­gen von Streiks oder De­mons­tra­tio­nen durch be­waff­ne­te Po­li­zei­ein­hei­ten und die Pinkertons, ei­ner pri­va­ten Sicherheits­firma, die im Auf­trag der bestreikten Fir­men rücksichtslos ge­gen die Ar­bei­ter vor­ging.

Die Enttäuschung war groß bei dem Heer eu­ro­pä­ischer Immi­gran­ten, die vor Hun­ger und Un­ter­drü­ckung in das ge­lob­te Land geflohen waren und nun fest­stel­len muss­ten, dass sie wehr­los ei­nem aus­beu­te­ri­schen Sys­tem aus­ge­lie­fert wa­ren. In ei­ni­gen Städ­ten grün­de­ten sich "Lehr- und Wehr­ver­ei­ne", in de­nen nicht nur die po­li­ti­sche Bildung der Arbeiter ge­för­dert wur­de, son­dern auch ihre prak­tische Fä­hig­keit zum Wider­stand.

Am 3. Mai 1886 schoss die Po­li­zei auf strei­ken­de Ar­bei­ter ei­ner Land­maschinen­fabrik, am 4. Mai ver­sam­mel­ten sich Tau­sen­de auf dem Hay­mar­ket in Chicago, um da­ge­gen zu pro­tes­tie­ren und ihrer For­de­rung für die Ein­füh­rung des Acht­stun­den­tags Nach­druck zu ver­lei­hen. Als sich die Ver­samm­lung auf­zu­lö­sen be­gann, grif­fen ei­ni­ge hun­dert Po­li­zis­ten die ver­blie­be­nen Arbeiter ge­gen den ausdrück­lichen Wil­len des an­we­sen­den Bür­ger­meis­ters an. Je­mand warf eine Bombe, die ei­nen Po­li­zis­ten tötete und mehrere verletzte. Die Polizei er­öff­ne­te das Feuer auf die De­mon­stran­ten, die An­zahl der Op­fer unter ihnen wur­de nie ermittelt. In den nächs­ten Ta­gen star­ben sechs wei­te­re Poli­zisten an den Fol­gen ihrer Ver­let­zun­gen.

Es kam zu zahllosen Durch­suchungen und Fest­nah­men, vor al­lem in den Krei­sen der aus­län­dischen or­ga­ni­sier­ten Ar­bei­ter. Gegen acht von ih­nen wur­de schließ­lich der Pro­zess we­gen Mor­des er­öff­net.

Sechs Angeklagte stammten aus Deutsch­land, einer aus Groß­britannien, einer war ge­bür­ti­ger Ameri­kaner. Alle wa­ren Anar­chis­ten.

Albert Parsons, der Ame­ri­ka­ner, war unter­ge­taucht, er­schien je­doch am ersten Pro­zess­tag (21. Juni 1886) und nahm zum Er­stau­nen aller auf der Anklage­bank Platz. Schnell wurde klar, dass es um mehr ging als um die justizielle Auf­ar­bei­tung ei­nes Attentats. Die Wahl der Ge­schwo­re­nen, die Äu­ße­run­gen des zuständigen Rich­ters und der Staats­an­walt­schaft lie­ßen keinen Zweifel da­ran, dass ein Exempel sta­tuiert werden soll­te.

Obwohl keinem der An­ge­klag­ten die Tat nach­gewie­sen wer­den konnte – nur drei von ih­nen waren überhaupt vor Ort –, ob­wohl nur einer von ih­nen, Louis Lingg, über Kennt­nis­se zum Bau einer Bombe verfügte – aber auch er war nicht an­we­send als es zur Explosion kam –, wur­den sie­ben der An­ge­klag­ten zum Tod durch den Strang ver­ur­teilt, nur einer, Oskar Nee­be, erhielt eine fünfzehn­jäh­rige Zucht­haus­stra­fe.

Eine Revision der Urteile wur­de wenig später ab­ge­lehnt, Tei­le der Arbeiter­bewegung und Pro­mi­nen­te aus meh­re­ren Län­dern (u.a. George Ber­nard Shaw) starteten eine Kam­pa­gne für die Frei­lassung der Verur­teil­ten. Zwei von ih­nen (Samuel Fiel­den und Michael Schwab) reichten Gna­den­ge­su­che ein, de­nen statt­gegeben wurde, sie er­hiel­ten lebens­lange Haft­stra­fen.

Einen Tag vor der Hin­rich­tung, die für den 11. No­vem­ber 1887 an­ge­setzt war, nahm sich Louis Lingg in seiner Zel­le das Le­ben. Die anderen To­des­kandidaten be­stan­den wei­ter­hin auf ih­rer be­din­gungs­losen Frei­lassung oder der Hin­rich­tung.

Vor dem Gefängnis ver­sam­mel­te sich eine schwei­gende Men­ge, während die Verur­teil­ten auf ihre Hinrichtung vor­be­rei­tet wur­den. Es wird be­haup­tet, dass der Henker an diesem Tag die Kno­ten der Schlingen anders ge­knüpft habe als sonst. Die Ver­ur­teil­ten starben nicht an Ge­nick­bruch, sie er­stick­ten qual­voll.

Am Tag der Beisetzung, die Män­ner werden in ei­nem ge­mein­sa­men Grab auf dem Wald­heim Fried­hof be­stat­tet, be­wegt sich ein mehrere zehn­tausend Menschen um­fas­sen­der Trau­er­zug zu den Häusern der Familien der Hin­ge­rich­teten, um die Leichen auf ihren letzten Weg zu brin­gen.

Die Auseinandersetzung um die Schuld der Ver­ur­teilten geht wei­ter. Am 27. Juni 1893, einen Tag nach der Ent­hül­lung ei­nes Denk­mals zu Eh­ren der Hinge­richteten auf dem Wald­heim Fried­hof, re­ha­bi­litiert der Gouverneur von Illinois, John Pe­ter Altgeld, alle Verur­teilten und er­klärt sie für un­schul­dig. Die Inhaf­tierten werden um­ge­hend ent­lassen.

Horst Karasek, der Heraus­ge­ber, gibt einen Über­blick über die Geschichte der Ar­bei­ter­be­we­gung in den USA und die Be­deu­tung der Immi­gran­ten aus Europa. Die Le­bens­läufe der Anar­chis­ten sind von ihnen selbst ver­fasst, zeit­ge­nös­si­sche Be­rich­te und Aus­sa­gen er­schei­nen zum Teil erstmals in deutscher Spra­che.

Jahrzehnte später werden er­neut Anarchisten zu Opfern ei­nes Justiz­mordes: die aus Ita­lien einge­wanderten Fer­di­nan­do "Nicola" Sacco und Bar­to­lo­meo Vanzetti.

6. August 2022

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